Festgabe für Landesbischof i. R. Dr. Klaus Engelhardt zum 80. Geburtstag

Frage 62 des Heidelberger Katechismus: Warum können aber unsere guten Werke nicht die Gerechtigkeit vor Gott oder ein Stück derselben sein?

Von des Menschen Elend, Erlösung und Dankbarkeit – so lauten die drei Hauptstücke des Heidelberger Katechismus. Die mir zugedachte Frage 62 fällt in den Komplex „Gottes Gerechtigkeit und unsere Werke“. Der Gedankengang ist folgender: Gerechtigkeit vor Gott erlangt der Mensch ohne Werke – allein durch Gnade (Frage 60 f.). Dieses Geschenk darf ihn aber nicht „leichtfertig und gewissenlos“ werden lassen, sondern soll zu dankbarem Engagement führen (63f.). Deshalb erwähnt bereits Frage 64 als Folge der Rechtfertigung die „Früchte der Dankbarkeit“. Dazu heißt es im dritten Teil des Katechismus („Von der Dankbarkeit“): Wir, die Gerechtfertigten, sollen gute Werke tun: (1) um uns „dankbar gegen Gott für seine Wohltat“ zu erweisen, (2) damit er „durch uns gepriesen wird“, (3) wir selbst „unsers Glaubens aus seinen Früchten gewiß werden“ und (4) „unsern Nächsten auch für Christus gewinnen“ (Frage 86 ff.).

Das ist das große Ganze, in das wir durch die Tür von Frage 62 eintreten. Dankbarkeit soll deshalb auch das Motto sein, unter dem ich von der gemeinsamen Zeit mit Bischof i. R. Dr. Engelhardt berichten will: Er war ab 1980 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche Baden und ab 1991 Ratsvorsitzender der EKD – ich war beim ostdeutschen Kirchenbund tätig und ab 1982 bei der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Ost). Baden und Berlin-Brandenburg waren Partnerkirchen. Die Kirche war „die einzige Klammer, die es in unserem Volk zwischen Ost und West gab. Jede Landeskirche hatte eine Partnerkirche in der damaligen DDR, auf allen Ebenen unseres kirchlichen Lebens gab es Begegnungen, von der Gemeinde bis zur landeskirchlichen Leitung. Das ist über 40 Jahre gewachsen.“[1]

Noch heute sehe ich Bischof Engelhardt als Gast in einer Potsdamer Kirchengemeinde. Es war das Revolutions-Jahr 1989. Bei den Kommunalwahlen im Mai hatte es staatlicherseits Fälschungen gegeben. Eine politisch hochexplosive Spannung lag in der Luft. Auch die vielen jungen Menschen, die zu diesem Ost-West-Gemeindetreffen gekommen waren, drängten auf schnellen Umbruch. Sie wollten ihrem Leben neuen Sinn und der Gesellschaft eine Wende zum Guten geben.

Dazu schreibt Engelhardt später: „Nach den Kommunalwahlen in der DDR 1989 besuchte eine Delegation der badischen Kirchenleitung die berlin-brandenburgische Kirche. In einer Sitzung unter Leitung des damaligen Bischofs Forck wurde über Proteste berichtet, es gab Vorwürfe der Wahlmanipulation. Mich hat überrascht, mit welcher Eindringlichkeit das von der Kirchenleitung besprochen wurde, und dass Konsistorialpräsident Manfred Stolpe vom Bischof beauftragt wurde, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Man wusste, Stolpe hat Kontakte zu SED-Stellen, die immer wieder in Anspruch genommen wurden. Auch dass wir ohne weiteres einreisen konnten und uns in der DDR bewegen konnten – da stand im Hintergrund der Einfluss von Manfred Stolpe. Er war für mich ganz klar ein Mann der Kirche, bei allen Kontakten, die er hatte.“[2]

Engelhardt verstand wie kaum ein anderer zuzuhören. Und was er erlebte, bewegte sein Herz. Auch in dieser Phase des Gärens und Drängens stellte er sich uns als Mitbetroffener zur Seite. Zurückhaltend, aber klar, reagierte er. Er wollte Partner sein – nicht von oben herab, nicht bevormundend, sondern auf gleicher Augenhöhe. Wir spürten: Hier machen Menschen aus dem Westen unsere Anliegen zu ihren eigenen, ohne sich über uns zu erheben. Das war gelebte Geschwisterlichkeit, Solidarität. Das galt viel – 1989 ebenso wie heute. Denn: „Noch immer fühlen sich viele benachteiligt, noch immer gibt es unausrottbare Vorurteile, Fremdheit und Hürden. Sowohl im Westen als auch im Osten… Eine vollendete Einheit sieht anders aus.“[3]

Die Geschwister aus Baden kamen uns nahe: als Hörende und Begleitende. Unvergessen bleibt ein intensives Gespräch am 12. Oktober 1984: Bischof Klaus Engelhardt und mehrere Begleiter aus Baden waren mit Bischof Dr. Forck und weiteren Berlin-Brandenburger Kirchenvertretern in unserer Potsdamer Wohnung zusammengekommen. War es die sonst große räumliche Distanz, die füreinander besonders aufgeschlossen machte? War es die liebenswürdige „badische Lebensart“, die eine so wohltuende menschliche Nähe ermöglichte? Oder war es nicht auch die tiefempfundene Gemeinschaft des Glaubens, die wir nicht nur im Gottesdienst bekannten, sondern erleben durften?

Und uns wurde vielfach geholfen – auch mit Geld und mit Sachspenden. Mal waren es in der DDR nicht zu erhaltende Materialien für den Kirchbau, dann die Vervielfältigungstechnik für Gemeindebriefe. Besonders beliebt waren die zeitgemäßen Notenbücher für den Posaunenchor. Das alles war wichtig. Und ist es heute noch. Dank finanzieller Unterstützung aus Baden wurden im Jahr 2010 Instandsetzungsarbeiten an erhaltenswerten Kirchen in Lychen, in Wusterhausen und in Trebbin durchgeführt. Denn auch in Brandenburgs ländlichen Regionen soll das aus Stein und Ziegel erbaute Glaubenszeugnis nicht verstummen. „Da, wo es praktisch und konkret ist, setzen Bürger sich ein… An der Basis wird um die Einheit gerungen, und das klappt auch in der Regel.“[4]

Aber mehr noch: Während der Gespräche um die Wiedervereinigung der EKD hat Bischof Engelhardt als Ratsvorsitzender Achtung vor unserer im Osten gewachsenen Art, Kirche zu sein, zum Ausdruck gebracht – bis dahin, dass er zuweilen mit fragendem Blick die Impulse, die von uns ausgingen, aufnahm: „Warum haben sich die östlichen Landeskirchen mit Kirchensteuer, Religionsunterricht und Militärseelsorge so schwer getan und in erster Linie nur die Gefahr einer Abhängigkeit der Kirche vom Staat gesehen, nachdem sie in dieser Hinsicht vor der Wende unbekümmerter waren und sich eine gehörige Portion Unbefangenheit bewahrt hatten? Es bleibt für mich ein nicht auflösbarer Widerspruch zwischen Öffentlichkeitszuwendung vor der Wende und Öffentlichkeitsscheu nach der Wende.“[5]

Zurück zu Frage 62 aus dem Heidelberger Katechismus. In ihrem Licht muss jetzt ergänzt werden: Bei aller tiefen Dankbarkeit – zur Rechtfertigung vor Gott kann, gemäß reformatorischer Grundüberzeugung, die anrührende Treue Bischof Engelhardts nicht dienen. Aber dadurch wird sie in nichts entwertet! Denn die Rechtfertigung ist ihm bereits zuteil geworden, ehe er etwas für Kirche und Christen im Osten tun konnte. Gottes Ja geht voraus. „Der Glaube sagt: Du brauchst dir nicht ständig den Puls zu fühlen. Das gibt Freiheit und Selbstbewusstsein und eine innere Gelöstheit, Verantwortung in der Welt zu übernehmen.“[6]

Sein vom Kreisen um sich selbst befreiter Glaube hat Bischof Engelhardt gewiesen auf den Weg der selbst-losen Stärkung jener „besonderen Gemeinschaft“, die uns Christen in der DDR mit den Geschwistern der EKD über Mauer und Stacheldraht hinweg verband. Mit Zustimmung hat er unser Bemühen um Zeitgenossenschaft wahrgenommen: „Die Kirchen in der ehemaligen DDR… haben sich darum bemüht, Gemeinde Jesu in der atheistischen Gesellschaft zu sein. Kirche als Lerngemeinschaft: Das muss in unseren Landeskirchen und in der EKD wichtig bleiben“, erklärte er 1994.[7] Und wie sehr war er bestrebt, nach dem Wunder der „Friedlichen Revolution“ den Prozess des Zusammenführens von Kirche-Ost und Kirche-West achtsam im Blick auf diejenigen Bedingungen zu gestalten, unter denen wir als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft gelebt hatten. „Trotz Zeitnot und Entscheidungsdruck hätten wir uns in Ost und West intensiver um die Denkweise der Schwestern und Brüder aus dem je anderen Teil Deutschlands hineindenken müssen… Wir im Westen hätten deutlicher anerkennen müssen, welche seelische Leistung die Menschen im Osten erbracht haben, als sie sich völlig unerwartet von einem Tag auf den anderen auf total neue Lebensverhältnisse umstellen mussten.“[8]

Die Beteiligten in Berlin-Brandenburg haben das geschwisterliche Agieren von Bischof i. R. Dr. Engelhardt als wohltuend empfunden. Als Richtschnur galten Respekt und Solidarität. „Mit Geduld und vielleicht auch viel Liebe haben wir es geschafft“, beschrieb treffend der damalige EKD-Synoden-Präses Jürgen Schmude das Miteinander der Kirchen während des Einigungsprozesses.[9]

Anlässlich des 80. Geburtstages von Bischof i. R. Dr. Klaus Engelhardt dürfen wir von Herzen dankbar zurückblicken auf sein eindrucksvolles Lebenswerk. Es ist eine Frucht, die erwachsen ist aus dem Glauben an Gottes rechtfertigende Gnade, „denn es ist unmöglich, dass Menschen, die Christus durch wahren Glauben eingepflanzt sind, nicht Frucht der Dankbarkeit bringen.“[10]



[1]  EKD-Interview mit Engelhardt, in: EKD-Meldungen vom 20.01.2010

[2]  Ebd

[3]  Beatrice von Weizsäcker: Die Unvollendete, 55, Lübbe 2010

[4]  Ebd. 191 f.

[5]  Engelhardt: Geistesgegenwärtige Kirche, in: Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein, 23, Calwer Verlag 2002

[6]  Engelhardt: Das ewig Licht geht da herein… Bericht des Rates der EKD 1997, aaO, 216

 [7]  AaO, 249

 [8]  Geistesgegenwärtige Kirche, in: Ihn zu fassen… 24

 [9]  EKD-Meldungen vom 07. November 2011

[10]  Heidelberger Katechismus zu Frage 64