Interview 25 Jahre Brandenburg

Manfred Stolpes Traumland

Am 22. Juli vor 25 Jahren beschloss die DDR-Volkskammer, auch im Osten Bundesländer zu gründen. Das war die Geburtsstunde des Landes Brandenburg. Ein Gespräch mit Manfred Stolpe, dem ersten Ministerpräsidenten, über seine persönliche Rolle beim Werden dieses Landes.

Seine einstmals durchdringende Bassstimme klingt inzwischen zwar etwas sanfter, aber Zuhörer würden Manfred Stolpe, den ersten Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, auch mit geschlossenen Augen sofort erkennen. Der 79-jährige Sozialdemokrat, der das Land von 1990 bis 2002 regierte, empfängt in der Bibliothek einer Potsdamer Seniorenresidenz direkt an der Havel, in der er seit einigen Jahren mit seiner Frau Ingrid wohnt. Stolpe wirkt gelassen, konzentriert und zugewandt. Seine Erinnerungen an 25 Jahre Brandenburg, an die legendäre Regine Hildebrandt und an seine ganz persönliche Rolle beim Werden dieses Bundeslands sind höchst präzise.

Herr Stolpe, stellen Sie sich vor, ein Neuseeländer hätte eine Woche lang Zeit, das Land Brandenburg kennenzulernen. Welche Tour würden Sie ihm empfehlen?

Ich würde in der Uckermark anfangen, an der Unteren Oder, wo es wirklich noch ursprüngliche Natur gibt. Dann über Fontanes Neuruppin nach Rheinsberg zum Schloss, von dort in die Prignitz, das am frühesten besiedelte Kernland, dann in unsere Mutterstadt Brandenburg an der Havel mit der Dominsel. Es ginge weiter in den Spreewald und die Lausitz, nach Finsterwalde und Cottbus, dann Frankfurt (Oder), wo schon Internationalität zu spüren ist. Und zum Schluss – Potsdam. Dort findet man alles auf einmal.

Dieses Land feiert gerade sein 25-jähriges. Bestehen. Im Gegensatz etwa zu Sachsen oder Thüringen, die immer eine eigene Identität behielten, musste Brandenburg neu erfunden werden. Ist in dem Vierteljahrhundert tatsächlich dieses Wir-Gefühl entstanden, das die Politik jetzt so gern beschwört?

Ja, das gibt es wieder. Aber es war in der DDR fast komplett verloren gegangen. Als der sozialistische Aufbau verkündet wurde, hatte man die alten Länder aufgelöst und Bezirke geschaffen. Der Name Brandenburg verschwand völlig, war fast schon verfemt – vielleicht weil er zu sehr ans verhasste Preußen erinnerte, das ja auch weit in den Westen hineinragte. Als ich Mitte der 80er-Jahre einen Aufkleber mit einem roten Adler am Auto hatte, da fragte mich ein Nachbar argwöhnisch, wie ich denn nach Tirol gekommen sei. Die Tiroler haben nämlich auch einen roten Adler. Das brandenburgische Wappentier kannte er nicht.

Wie erfindet man ein Land neu? Und das passende Wir-Gefühl?

Als ich Ministerpräsident wurde, war mir klar: Man muss dieses Brandenburg wieder lebendig machen, man muss es in die Köpfe zurückholen. Und wir hatten da richtig Glück. Ein Herr Gustav Büchsenschütz – übrigens ein Berliner – hatte in den 20er-Jahren dieses Wanderlied vom roten Adler geschrieben …

… „Märkische Heide, märkischer Sand“ – ein Lied, das die Nazis später zum Landsermarsch machten.

Ja, aber ursprünglich war es ein Wanderlied mit harmlosem Text. Das ist dann zur Wendezeit ganz schnell wieder bekannt geworden. Das Orchester der Volkspolizei Potsdam hatte die Noten und spielte es schon ab Februar 1990. Im Herbst, noch vor dem 3. Oktober, war ich auf einem Empfang der Lufthansa in Schönefeld. Da stand am Ende des Programms: „Nationalhymne“. Ich war gespannt, ob sie die DDR-Hymne oder die bundesdeutsche spielen würden. Sie spielten den roten Adler. Und ich war glücklich.

Aber ein Lied reicht doch nicht für eine Identität.

Nein, das reicht nicht. Damals haben Sozialministerin Regine Hildebrandt und ich für Brandenburg geworben, wo wir auch auftraten. Und zumindest auf Regine Hildebrandt wurde gehört. Es ist wichtig für die Menschen gerade in dramatischen Umbruchzeiten, ein Stück Heimatgefühl zu entwickeln. Das ist der Ort, wo man ernst genommen wird, wo man dazugehört, wo man sich einbringt. Ich glaube, nach zwei, drei Jahren war Brandenburg als Land wirklich angenommen.

Sie waren einer der ersten Ministerpräsidenten im Osten. Was hat dieses erste Jahrzehnt geprägt?

Es ging in erster Linie darum, den gewaltigen Umbruch zu bewältigen. Ein dreifacher Umbruch: Die Menschen mussten sich erstens an eine völlig neue Rechtsordnung gewöhnen. Daran, dass Gerichte entscheiden, wenn es Konflikte gibt – und nicht die Politik. Zu DDR-Zeiten gab es dieses Eingabensystem: Man schrieb direkt an Erich Honecker und bekam eine, wenn auch kaum hilfreiche Antwort. Ich bin in den ersten Monaten noch bombardiert worden mit solchen Briefen. Ich war der Ersatz-Honecker. Ich musste eigens ein Büro einrichten, damit die Leute zumindest eine Antwort bekamen. Sonst beschwerten sie sich. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis das aufhörte.

Zweitens?

Zweitens die Wirtschaft. Die Menschen waren ein politisch geleitetes System gewohnt. Es ging nicht ums Verkaufen, sondern ums Planerfüllen. Und auf einmal sollten sich die Firmen im internationalen Wettbewerb behaupten. Die sehr unterschätzte Treuhandanstalt hat sich da Verdienste erworben, weil sie oft Kredite gab, bis ein Unternehmen es selber schaffen konnte oder einen potenten Partner fand.

Sie kannten sich doch auch nicht aus in der Marktwirtschaft. Wie konnten Sie da helfen?

Das Problem war eigentlich schnell klar: Im Westen gab es große und starke Unternehmen, die nichts von dem brauchten, was die DDR hatte. Wir wussten, die würden ihren Vorteil nutzen. Also brauchten wir Schutzmechanismen, damit nicht alles kollabierte. Regine Hildebrandt ließ ihren Staatssekretär Olaf Sund ein Konzept für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schreiben. Damit sind wir zu Helmut Kohl gegangen und haben ihm erklärt, dass sich bei uns etwas zusammenbraut, wenn wir nichts unternehmen. Kohl liebte solche laut redenden Damen wie Regine Hildebrandt nicht. Aber die Finanzierung der ABM wurde genehmigt, das war eine wichtige Hilfe.

Und drittens?

Das wird oft unterschätzt: der mentale Umbruch. Die DDR war ein Staat, in dem von der Wiege bis zur Bahre alles vorgegeben war. Jetzt lebten die Leute in einer Gesellschaft, in der man sich kümmern muss – um sich selbst, um die eigenen Chancen. Regine Hildebrandt hat den schönen Satz geprägt: „Wer abwartet, hat schon verloren.“ Das musste erst einmal verstanden werden. Die Jüngeren haben das längst kapiert, die Älteren tun sich bis heute schwer. Viele hatten das Gefühl, sie sind zu Verlierern der Einheit geworden, umjubelt im Spätherbst 1989, gebraucht bei der Bundestagswahl 1990, später dann zweitklassig im vereinigten Deutschland.

Die SPD regiert in Brandenburg seit 25 Jahren ununterbrochen. Das gibt es im Osten sonst nirgendwo. Wie kommt’s? Ist das Ihr Werk?

Nein, mein Werk ist das bestimmt nicht. Ich hatte aber damals einen großen Startvorteil: Ich war im Land schon bekannt. Man kannte mich als Mann der Kirche, viele Oppositionelle hatten meine Telefonnummer. Hinzu kam, dass Leute wie Willy Brandt oder Walter Momper, mit dem ich auftrat, auch im Osten prominent waren. Das kam mir zugute.

Eigentlich ist doch seltsam, dass Sie als Kirchenmann damals nicht zur CDU gingen. Sonst wäre Brandenburg heute womöglich schwarz?

Ja, Kohl hat mich damals sogar anwerben wollen. Schon ab Dezember 1989 versuchten die Christdemokraten aus dem Westen, ihre „Allianz für Deutschland“ zu schmieden. Ich hatte gar nichts gegen Kohl und auch nichts gegen die CDU, aber ich war zu dem Zeitpunkt der Meinung, dass man nicht in eine Partei gehen soll. Ich hatte meinen unabhängigen Posten bei der Kirche, musste keinem Parteibeschluss folgen und wollte das auch nicht.

Wie kamen Sie zur SPD?

Erst nach den Wahlen im Frühjahr 1990 wurde mir klar, dass man in einer Demokratie in einer Gemeinschaft agieren muss, um etwas zu erreichen. Ich habe die Parteien dann eine Weile beobachtet. Mich beeindruckte insbesondere Johannes Rau, den ich schon kannte und der sich mit den Sorgen der kleinen Leute beschäftigte. Rau hatte den großen Strukturumbruch im Ruhrgebiet mitgestaltet. Er wusste, was das heißt. Er sagte schon damals, so ein Umbau dauert 30 Jahre. Offiziell ging man da noch von drei oder vier Jahren aus. Ich bin dann im Sommer 1990 in die SPD eingetreten.

Ihr großes Projekt einer Länderfusion ist dann später gescheitert. Wie schätzen Sie das Verhältnis zwischen Brandenburg und Berlin heute ein?

Besser als noch vor Kurzem. Berliner und Brandenburger haben zwar immer noch zu wenig miteinander zu tun. Die Berliner drehen sich stark um sich selber, und die Brandenburger sind froh, wenn sie mit denen nichts zu tun haben müssen. Beides ist ein Fehler. Ich bin aber der Meinung, dass die Regierungschefs Dietmar Woidke und Michael Müller vernünftig und sachlich miteinander umgehen. Dass es mit der Fusion nicht geklappt hat, finde ich schade. Vielleicht kommt das Thema aber wieder, wenn die nächste Krise drückt und es deshalb einen neuen Anlauf geben muss. Vielleicht gibt es dann doch noch mein Traumland aus Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Das Gespräch führten Jan Thomsen und Jens Blankennagel.

Quelle: Berliner Zeitung