Ohne Rücksicht auf Gefühle

Veröffentlicht am 23. November 2012 in Märkische Allgemeine

Interview mit Manfred Stolpe zur frühen Eröffnung des Potsdamer Weihnachtsmarktes

Über die umstrittene Eröffnung des Weihnachtsmarktes vor Totensonntag sprach Ildiko Röd mit dem Alt-Ministerpräsidenten und früheren Kirchenjuristen Manfred Stolpe. 

MAZ: Was ist Ihre Position in der Debatte ?

Manfred Stolpe: Ich finde es geschmacklos und bin ein bisschen erschüttert, dass das Kommerzdenken sich über alle Anstandsregeln hinwegsetzt. Das gab es selbst zu DDR-Zeiten trotz gelegentlicher Entgleisungen nicht.

Aber die Wirtschaft muss ja auch leben.

Stolpe: Die Eröffnung ist schon geschmacklos genug, aber der Sonntag muss freigehalten werden. Ich hoffe, dass es genügend Menschen in Potsdam gibt, die so rücksichtsvoll sind gegenüber den Gefühlen ihrer Mitbürger, dass sie die voreiligen Händler auf dem Markt durch ihr Nichterscheinen abstrafen.

Sie plädieren für einen Weihnachtsmarkt-Boykott?

Stolpe: Nicht generell. Aber in den Tagen bis zum 26. November, wenn tatsächlich die erste Adventswoche beginnt. Wenn die Existenz der Händler an diesen Tagen hängt, ist ihnen nicht mehr zu helfen.

Wie beurteilen Sie das Agieren der Stadtverwaltung?

Stolpe: Die Verwaltung ist ganz formal vorgegangen. Die haben geguckt: Geht’s? Geht’s nicht? Sie haben den Argumenten des Profits nicht standhalten können. Für mich ist das ein Signal für die Richtung, in die sich die Gesellschaft in unserer Stadt bewegt: dass es zu einer Vergötzung des Geldes kommt, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Menschen.

Was bedeutet Ihnen als sehr gläubigem Menschen der Totensonntag und wie begehen Sie ihn?

Stolpe: Es ist ein Tag des Innehaltens mit einer doppelten Funktion: der dankbaren Erinnerung an die Verstorbenen und der Besinnung auf die Endlichkeit des eigenen Lebens. Es ist stilles Gedenken – kein Feiertag. Da geht man nicht mit Trommeln und Trompeten durch die Straßen. Wir werden die Gräber unserer Eltern auf dem Friedhof besuchen.