Albrecht Schönherr – ein Brandenburger

Albrecht Schönherr hat fast 100 Jahre in Brandenburg gelebt als Pfarrer, Bischof und Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Aufgewachsen in Neuruppin, tätig in Brüssow, Eberswalde, Berlin und Brandenburg/Havel kannte und liebte er unser Land. Seine Heimat der Seen und Wälder war im vertraut. Er war in dieser eigenartigen Mischung aus Weltstadt und Bauerngemeinden verwurzelt. Das war das Feld, auf dem er sich bewähren sollte. Das war seine persönliche Glaubensüberzeugung. Besonders verbunden fühlte er sich mit dem Dom zu Brandenburg, der Mutterkirche dieses Landes. Anlässlich der Tausendjahrfeier des Bistums Brandenburg 1948 wurde er als Dompfarrer eingeführt und blieb dem Dom als Superintendent, später Dechant und Ehrendechant bis zu seinem Lebensende 2009 verbunden. Hier erlebte er die Wirklichkeit christlicher Existenz vor Ort mit all ihren Benachteiligungen und Hoffnungen direkt mit.

Albrecht Schönherr liebte die Menschen. Mit Theodor Fontane war er der Meinung, dass sie das Beste an Brandenburg sind. Er konnte zuhören, lernte selbst viel aus den Begegnungen und Gesprächen. Seine Aufmerksamkeit für den einzelnen Menschen war ein Markenzeichen seiner Arbeit. Albrecht Schönherr strahlte Ruhe aus und schuf Vertrauen. Er war ein unerschrockener, freier und offener Gesprächspartner der politischen Mächte. Von Statur und Auftreten war er eine Respektperson mit der Gabe, unbefangen auf Menschen zugehen zu können, sie freundlich aber unbeugsam zu beeindrucken und zu gewinnen. Vicco von Bülow war beeindruckt von „dem Zauber überraschender Verständigung“ mit Albrecht Schönherr.

Albrecht Schönherr hat in seinem Leben fünf politische Systeme und darunter zwei Diktaturen erlebt. Die Auseinandersetzung mit dem mörderischen Nazisystem war für ihn eine tiefgreifende Erfahrung. Er widersprach jeder Verharmlosung dieser blutigen Diktatur und hielt die Gleichsetzung der Diktaturen von Nazis und SED für unzulässig. Schönherrs Einstellung zur nationalsozialistischen Diktatur wurde durch den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer geprägt, den die Nazihenker noch im April 1945 ermordeten. Von Bonhoeffer lernte er auch, dass Christen selbst in schwierigsten Situationen Hoffnung haben dürfen. Auch wenn der Weg steiler werde, gelte es, kräftig draufloszuschreiten im Blick auf neue weite Horizonte.

Das gab ihm die Kraft und die Hoffnung, im kirchenfeindlichen DDR-System nicht das Ende aller Wege Gottes mit seinem Volk zu sehen. Sehr früh erlebte Schönherr, welche Vorstellungen die herrschende kommunistische SED und der Staat DDR von Religion und Kirche hatte. Danach galten Religion und Kirche als Relikte der Vergangenheit, die zum Absterben verurteilt seien. Religion sei unwissenschaftlich und falsch. Opium für das Volk und zu dessen Unterdrückung von den früheren Ausbeutern genutzt. Die Kirche sei ein Instrument der früher herrschenden Klasse, der Kapitalisten und Großgrundbesitzer und in der DDR demzufolge die Fünfte Kolonne des westdeutschen Klassenfeindes. Kirche und Christen waren so in doppelter Hinsicht Feinde. Sowohl im Kampf der atheistischen Weltanschauung gegen die Religion als auch im Klassenkampf als Verbündete des westlichen Gegners. Dem erwarteten gesetzmäßigen Untergang von Religion und Kirche sollte nachgeholfen werden. Ihr Einfluss auf die Jugend bekämpft, kirchliche Aktivitäten in sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Bereich sollten eingeschränkt und ausgeschaltet werden. Kontakte zu den Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland wurden möglichst verhindert. Eine massive Kirchenaustrittskampagne führte zu einem erheblichen Rückgang ihrer Mitgliederzahl. Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt und christliche Eltern wurden aus den Elternbeiräten verdrängt. Christen wurden benachteiligt und in ihrem beruflichen Fortkommen behindert. Viele Christen fürchteten der kommunistischen Übermacht ausgeliefert zu sein und nicht wenige flohen in den Westen.

Damit wollte sich Albrecht Schönherr nicht abfinden. Denn er war überzeugt, dass es falsch ist, nur über böse Entwicklungen zu klagen und sich in eine „Welt-Ängstlichkeit“ zu bewegen. Während für viele christliche Amtsträger der atheistische Charakter  der SED  Grund war, möglichst wenig mit Staat und Gesellschaft der DDR zu tun zu haben, sah Schönherr in der DDR keinen „weißen Fleck in der Landkarte Gottes“. Deshalb sollte man den politisch Verantwortlichen nicht aus dem Wege gehen, sondern sie vielmehr fragen, wo der Platz der Christen in der sozialistischen DDR sei. Kirche und Christen sollen sich vor Resignation hüten. Schönherr warnte vor Berührungsängsten. Im Verhältnis zum Staat DDR wollte Schönherr aus der politischen Verdächtigung als Klassenfeind, Handlanger des Westens heraus kommen und so die Angriffsfläche gegen Kirche und Christen mindern. Er sah die Gefahren einer totalen Anpassung einerseits und der ständigen Verweigerung andererseits. Er wollte kein „Partisan des Westens“ sein, sondern mit beiden Beinen in der DDR leben aber als Christ. Die Staats- und Parteifunktionäre sollten zur Kenntnis nehmen, dass zum Christ sein aber nicht nur das Beten, sondern das Tun des Gerechten unter den Menschen gehört. Die Kirche sollte nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein. Sie sollte bei den Menschen sein, die in dieser sozialistischen Gesellschaft leben mussten. Kirche im Sozialismus  bedeutete den Anspruch zur Mitgestaltung der Gesellschaft. Das sah die atheistische Ideologie nicht vor. Duldung der Kirche als gesellschaftliche Realität sei denkbar, aber nicht deren Ausbreitung und Zukunftsmitgestaltung sowie die Inanspruchnahme des Begriffes Sozialismus durch die Kirche. Die SED hat äußerst aggressiv reagiert als von Seiten der Kirche vom verbesserlichen Sozialismus gesprochen wurde und sah darin eine Unterwanderung der sozialistischen DDR. Tatsächlich gelang es Albrecht Schönherr, das politische Feindbild der SED gegenüber der Kirche zu mindern und eine größere Eigenständigkeit mit Freiräumen auch für gesellschaftskritische Debatten in den Kirchen zu ermöglichen. So konnten in den 80er Jahren in den evangelischen Kirchen weit über eintausend Gruppen entstehen, die sich mit Fragen der Gerechtigkeit, der Umwelt und des Friedens befassten. Aus ihnen wuchs dann bei wachsender Unzufriedenheit mit der Reformunfähigkeit der DDR-Führung der Druck zu einem Umbruch der Verhältnisse einer friedlichen Revolution.

Auch die Ostpolitik Willy Brandts der Wandel durch Annäherung trug erheblich dazu bei, dass die Haltung des DDR-Staates gegenüber der Kirche flexibler wurde. Albrecht Schönherr hat Willy Brandt mehrfach getroffen. Für beide war die Zusammengehörigkeit der Deutschen eine Selbstverständlichkeit. Nach Kontakten mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ergab sich

z. B. 1980, dass Schönherr jede Möglichkeit nutzte, um die DDR-Führung vor einem Einmarsch in Polen zur Unterdrückung der Solidarnosc-Bewegung zu warnen. Schönherr tat dies auch auf dem Hintergrund seiner vielfältigen Kontakte nach Polen und seiner Wertschätzung für diese Nachbarn. Schönherr unterstützte die kontinuierlichen Gespräche der Evangelischen Kirchen der DDR und der BRD, ihrer Leitungen, ihrer Fachgremien und vieler Tausend Ost-West-Gemeindetreffen. Die evangelische Kirche war eine Brücke zwischen Ost und West.

Erhard Eppler erlebte Albrecht Schönherr als den Bischof, der seine Kirche führen, zusammenhalten, verteidigen musste in einem Staat, nach dessen Doktrin es gar keine Kirche mehr geben sollte. Ein Bischof, der, wenn er etwas sagte, der ganz dahinter stand, der verbindlich oder gar nicht redete.

Albrecht Schönherr empfand die DDR-Zeit im Sinne Bonhoeffers nicht als verlorene Zeit, denn verloren wäre die Zeit, in der wir nicht als Menschen gelebt, Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten. Verlorene Zeit ist unausgefüllte leere Zeit. Das sind die vergangenen Jahre gewiss nicht gewesen.

Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung forderte Schönherr, die DDR-Vergangenheit umfassend und historisch gerecht zu beurteilen sowie Pauschalierungen zu unterlassen. Stasi-Aufzeichnungen und Aktennotizen von Funktionären reichten zur wirklichen Aufarbeitung nicht aus und würden nur die Kluft zwischen Ost und West vertiefen. Schönherr wollte, dass die, die in der DDR gelebt haben, nicht an den Pranger gestellt werden.

Schönherrs historisches Verdienst besteht in seinem Eintreten dafür, dass Christen sich in der DDR nicht ängstlich hinter Kirchenmauern zurückzogen, sondern in die Gesellschaft hinein wirkten und sie schließlich veränderten. In der Zeit der deutschen Teilung half er entscheidend mit, dass die Evangelische Kirche eine Brücke zwischen den deutschen Staaten blieb. Sie hat Gemeinschaft bewahrt und konnte nach 1990 Mitgestalterin des Zusammenwachsens von Ost und West werden. Wir können stolz auf den Brandenburger Albrecht Schönherr sein.