Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Wir wollen freie Menschen sein“

Der DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953

Landtag Potsdam 5. Juni 2013


Danke für diese Ausstellung. Denn der 17. Juni 1953 ist nicht ferne Geschichte. Er ist Vergangenheit, die in die Gegenwart reicht und für die Zukunft wichtig ist.

Das Volk wurde im Juni 53 mit Panzern besiegt. Aber seine Forderungen nach Freiheit, freien Wahlen, Rechtsicherheit und Gerechtigkeit blieben bestehen.

Ich war im Juni 1953 17 Jahre alt, ein politisch sehr interessierter Schüler. 1952 hatte ich mit heißem Herzen Stalins Angebot an die Westmächte gehört, Deutschland wieder zu vereinigen, wenn es neutral bliebe. Wir alle in der Klasse und auch die Lehrer waren dafür! Nach der Ablehnung der Stalin-Note durch den Westen erlebten wir, wie die SED voll auf den Aufbau des Sozialismus steuerte. Ulbricht wollte schnell und unumkehrbar die DDR sowjetisieren, schaffte u. a. die Länder ab. Ich gehörte zur Jungen Gemeinde der Evangelischen Kirche und erlebte, wie wir als Tarnorganisation des westlichen Feindes wegen Spionage und Sabotage angegriffen wurden.

Alle Mitglieder der Jungen Gemeinden in den Abiturklassen wurden von meiner Greifswalder Oberschule entfernt. Ich war in der 10. Klasse. Unser Abzeichen, das Kreuz auf der Kugel, wurde dem Hakenkreuz gleichgestellt!

Ich erlebte, wie die große diakonische Anstalt Züssow beschlagnahmt wurde. In Brandenburg war es Lobetal. Ich erlebte wie Pfarrer verhaftet wurden, weil sie sich regierungskritisch geäußert hatten. Ich erlebte unmittelbar, wie der Bischof zur Polizei vorgeladen und bedroht wurde. Denn die Ev. Kirche war Klassenfeind Nr. 1 neben dem Sozialdemokratismus.
Ich erlebte, wie uns bekannte Handwerker mit Steuern kaputt gemacht wurden. Ich erlebte, wie unsere Bauern in die LPG gezwungen werden sollten.
Ich erlebte, wie die Arbeiter immer höhere Normen bei weniger Geld bekamen.

Ich erlebte, wie Westreisen erschwert wurden und ich nicht zu meiner sterbenden Großmutter nach Kiel durfte.
Und ich erlebte, wie die Unzufriedenheit von Tag zu Tag wuchs!

Die Lage war hochexplosiv. Dann starb im März 1953 der allmächtige Führer J. W. Stalin. Das ließ die Menschen hoffen und verunsicherte die SED, denn sie wussten, dass in Moskau unterschiedliche Meinungen zur Deutschland-Politik bestanden. Der KGB-Chef Berija kannte die Lage in der DDR und Ulbricht wurde Anfang Juni 53 nach Moskau bestellt und zur Mäßigung aufgefordert. Er musste gehorchen. Am 10. Juni 1953 lasen wir staunend in der Zeitung von einem Neuen Kurs, einer Wende um 180 Grad und tatsächlich wurden sofort die Pfarrer freigesetzt, die christlichen Abiturienten konnten zurückkommen, die diakonischen Einrichtungen wurden zurückgegeben. Aber die Arbeiter, Bauern und Handwerker merkten noch nichts vom Neuen Kurs. Im Gegenteil: die erhöhten Arbeitsnormen blieben.

Am 16./17. Juni explodierte die Lage. Die Bauarbeiter der Stalinallee und die Stahlarbeiter aus Hennigsdorf marschierten zur DDR-Regierungszentrale. Die westlichen Sender informierten über die Lage. Voran der RIAS mit seinem Redakteur Egon Bahr. Sie hetzten nicht auf, aber nun wussten es alle in der DDR und mehr als eine Million Menschen in allen Städten und vielen Dörfern demonstrierten gegen die Regierung.

Auch wir sagten „Spitzbart – Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!“. Gemeint waren Ulbricht, Pieck und Grotewohl. Freie Wahlen war die Forderung! In Greifswald streikten die Arbeiter im größten Industriebetrieb, dem Reichsbahnausbesserungswerk. Die Schülerin Ingrid Ehrhardt, jetzt Stolpe, erlebte, wie in Jena die Parteizentrale gestürmt, Papiere und Schreibmaschinen auf die Straße geworfen wurden. Und sie erlebte, wie sowjetische Panzer die Menschen auseinandertrieben. Bei uns in Greifswald sperrte Marinepolizei das Werk ab. In Berlin wurden 600 sowjetische Panzer gegen die Demonstranten in Marsch gesetzt.

Die Revolution wurde erdrückt, aber ihre Ursachen blieben und die Hoffnung starb nicht! Sie lebte wieder stark auf 1956 und 1968 und starb auch 1961 nicht, als wir mit der Mauer eingesperrt wurden. Und immer rollten die Panzer!

Der 17. Juni 1953 hat eine Generation traumatisiert. Die Machthaber in der DDR bekamen eine dauerhafte Furcht vor der Urgewalt des Volkswillens und glaubten, „dass Nachgeben wie am 10. Juni 1953 die Revolution auslösen kann“. Das bestimmten1989 die alten Herren von 1953 Honecker, Mielke, Stoph.

Wir Verlierer von 1953 verinnerlichten, dass gegen Gewaltherrschaft kein offener Widerstand möglich ist, dass mit bloßen Händen keine Panzer aufzuhalten sind und dass Angriffe auf Parteizentralen, Steinwürfe, Brandstiftung nur willkommener Anlass zum Panzereinsatz sein werden.

Die nachwachsende Generation zeigte, dass auch friedlich, aber deutlich und öffentlich der Protest gezeigt werden kann. Die Aktion Schwerter zu Pflugscharen, Umweltaktionen, Blues-Messen, Friedensgebete und schließlich Protestzüge, bei denen Kerzen statt Steinen gehalten wurden.

Damit hatte das Politbüro der SED nicht gerechnet. Sie warteten auf Steinewerfer, Brandstifter, Angriffe auf Partei- und Stasi-Zentralen und griffen mit ihrer Übermacht nicht ein, riefen auch nicht die sowjetischen Waffenbrüder aus Wünsdorf.

Das Volk übernahm friedlich die Macht und nahm am 9. November mit dem Mauersturm seine Selbstbestimmung wahr. Das respektierten alle Siegermächte im Februar 1990 und ließen Freie Wahlen zu. Mit der freien Wahl am 18. März 1990 hatte die Revolution gesiegt.

Wir alle haben die Verpflichtung, die 1953 erdrückten Hoffnungen der Menschen auf Freiheit und Gerechtigkeit als Orientierung unseres politischen Handels anzunehmen.