Das Erbe der DDR – Diakonie in der säkularisierten Gesellschaft

Wir erinnern uns an Friedrich von Bodelschwingh, der vor 100 Jahren starb und eine der prägenden Persönlichkeiten deutscher Sozialgeschichte ist. Aus tiefer Frömmigkeit wurde er vom menschlichen Elend berührt und hat sich mit Leidenschaft für die Nöte der Menschen eingesetzt. Denn „es geht kein Mensch über diese Erde, den Gott nicht liebt“.

Er konnte sich mit den wachsenden sozialen Spannungen des 19. Jahrhunderts, dem großen Abstand zwischen arm und reich nicht abfinden. Es ging ihm um die Verlierer der Industrialisierung. Er wollte, dass die moderne Gesellschaft nicht allein vom profitorientierten Kapitalismus geprägt wird, sondern ein menschliches Antlitz hat. Mit seiner Tatkraft, seiner großen Entschlossenheit, seinen breiten Verbindungen und seiner Gabe, Menschen zu gewinnen, wurde Friedrich von Bodelschwingh zum Wegbereiter des modernen Sozialstaates. Andere redeten, Bodelschwingh handelte. Er wollte zum Beispiel Arbeitslose aus dem Elend in Beschäftigung bringen und gründete nach dem Motto „Arbeit statt Almosen“ Arbeiterkolonien. Seine unmittelbaren Arbeitsfelder wurden Bethel in Westfalen und Hoffnungstal-Lobetal in Berlin-Brandenburg. Sein Einfluss prägte die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands. Zahlreiche diakonische Einrichtungen wurden gegründet, die sich in einem Centralausschuss zusammenfanden.

Nazi-Diktatur und Krieg brachten unendliches Leid, große Zerstörungen und schließlich die Teilung Deutschlands. Berlin-Brandenburg war besonders betroffen. Es brauchte mutige Persönlichkeiten mit starker Glaubenskraft, um sich der Nöte der Menschen zuzuwenden und die dafür erforderlichen Einrichtungen wieder aufzubauen.

Ein Glücksfall für die sowjetische Besatzungszone war der Pastor Paul Braune. Braune war an der Theologischen Hochschule in Bethel ausgebildet und hatte Bodelschwingh kennen gelernt. Er wurde Pfarrer in einem kleinen Dorf an der Oder, hatte wirtschaftliche Erfahrungen und wurde 1922 zum Leiter in Lobetal berufen. Nach den Schrecken des Krieges gestaltete er den Wiederaufbau dieser Anstalt und wurde schon im Sommer 1945 zum Präsidenten der Diakonischen Arbeit in der SBZ bestellt. Mit großer Tatkraft, geschickter Leitungsgabe, schnellen Entscheidungen und gesundem Pragmatismus baute er unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungsmacht diakonische Arbeit auf.

Bald wurde deutlich, dass die Fülle der Aufgaben und Herausforderungen die selbständig entstandene Arbeit der Inneren Mission/Diakonie und die Evangelische Kirche zusammenbringen musste. Die Kirche erkannte 1945, dass sie nicht mehr alle menschliche Nothilfe allein der Inneren Mission zuweisen durfte und gründete ein Hilfswerk. Mehr und mehr setzte sich die Überzeugung durch, dass Diakonie eine unverzichtbare, unmittelbare Funktion der Kirche, ein Wesensmerkmal der ganzen Gemeinde ist. Die religionsfeindliche politische Entwicklung in der 1949 gegründeten DDR verstärkte diese Einsicht: Die herrschende Meinung der DDR-Staatsmacht war negativ zu Kirche und Christen. Es hieß, Kirche und Religion sind Reste der Vergangenheit und zum Absterben verurteilt. Religion ist unwissenschaftlich und falsch, Opium für das Volk und zu dessen Unterdrückung von den Ausbeutern benutzt. Die Kirche in der DDR ist ein Instrument der früher herrschenden Klasse der Kapitalisten und der Großgrundbesitzer und somit hier die 5. Kolonne des Klassenfeindes. Kirche und Christen waren also in doppelter Hinsicht Feinde: Im Kampf der Weltanschauungen und im Klassenkampf. Deshalb sollte dem gesetzmäßigen Untergang von Religion und Kirche nachgeholfen werden. Ihr Einfluss auf die Jugend sollte beseitigt werden. Kirchliche Aktivitäten im sozialen und kulturellen Bereich sollten eingeschränkt werden. Kontakte in die Bundesrepublik und nach Westberlin sollten verhindert werden. Lenins Taktik, erst isolieren, dann liquidieren, saß in den Köpfen vieler Funktionäre. Das hieß im Alltag, den Einfluss der Kirchen zurück zu drängen durch eine Vielzahl von Maßnahmen:

Die Staatsleistungen wurden gekürzt.
Der staatliche Kirchensteuereinzug wurde abgeschafft.
Kirchliche und diakonische Spendensammlungen wurden erschwert.
Der Religionsunterricht wurde aus der Schule verdrängt.
Die kirchliche Jugendarbeit wurde politisch bekämpft und die evangelischen Studentengemeinden wurden kriminalisiert.
Eine staatliche Jugendweihe wurde gegen die Konfirmation eingeführt.
Christliche Kinder, insbesondere, wenn sie sich nicht an der Jugendweihe beteiligten, wurden in ihrem Fortkommen benachteiligt, in dem sie häufig nicht zur Oberschule zugelassen wurden. I
Im Berufsleben hatten Christen in der Regel keine Möglichkeit, in hohe Verantwortungsbereiche zu gelangen.
In den 50er Jahren wurden massive Austrittskampagnen gegen die Kirchenmitgliedschaft gestartet. Die Staatlichen Notariate kamen in die Betriebe und Einrichtungen und beurkundeten dort den Kirchenaustritt. Es war für das berufliche Fortkommen schädlich, nicht aus der Kirche auszutreten.

Die evangelische Kirche der DDR verlor in den Jahrzehnten der staatlichen Verfolgung nahezu 2/3 ihrer Mitglieder, darunter 2 Millionen Menschen, die die DDR verließen. Der Bevölkerungsanteil der evangelischen Kirche sank von 90 Prozent im Jahr 1949 auf 30 Prozent im Jahr 1989.

Nur scheinbar hatte es die Diakonie in der sozialistischen Diktatur leichter. Auch wenn Diakonie und Kirche noch gelegentlich fremdelten, so war für die SED-Ideologen immer klar: Diakonie ist Teil von Religion und Kirche und mit ihrer breiten Wirkung in die Gesellschaft deren gefährlichster Teil, denn dort wurde nicht nur über den Himmel geredet, sondern wurde handfest tagaus tagein für tausende Menschen die christliche Botschaft erfahrbar gemacht. Zunächst gab es nur sporadische Konflikte. So wurde in den 40er Jahren versucht, die Verteilung ausländischer Spenden der Diakonie zu entziehen, um somit die öffentliche Wirkung dieser Hilfen zu beseitigen. Dann folgten Einfuhrverbote und Behinderungen der Ausbildungen. Die Konflikte spitzten sich zu, als die SED 1952 beschloss, die Grundlagen des Sozialismus in der DDR zu errichten. Einigen diakonischen Vereinen wurde die Rechtsfähigkeit entzogen, Stiftungen kamen unter kommunale Aufsicht, Heimen wurden die Finanzierungsgrundlagen genommen, andere geschlossen. Mit der Beschlagnahme auch großer diakonischer Einrichtungen erreichten diese Auseinandersetzungen im Frühjahr 1953 ein Ausmaß, das auf die Beseitigung der Diakonie als kirchliches Arbeitsfeld zielte. Das war der Höhepunkt eines Kirchenkampfes, der zugleich in einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Mangelwirtschaft und Normerhöhung stattfand. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wuchs, die SED-Führung begann einzulenken.

Pastor Paul Braune gelang es, Mitte Mai 1953 die schon besetzten Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal wieder freizubekommen. Anfang Juni sagte die DDR-Regierung den evangelischen Kirchen einen neuen Kurs, die Rücknahme der härtesten Bedrängungen und die Wiederfreigabe diakonischer Einrichtungen zu.

Die konfrontative Kirchenpolitik und die kirchenfeindliche Ideologie des SED-Staates haben eine deutliche Annäherung von Diakonie und Kirche befördert. Zugleich wurde die institutionelle Zusammenarbeit deutlich verstärkt. Staatliche Regelungen zugunsten der Diakonie konnten durch gemeinsames Handeln von Kirche und Diakonie erreicht werden. Die etwas weichere kirchenpolitische Linie änderte nichts an der Grundeinstellung der SED zu Kirche und Diakonie, ermöglichte aber ein staatliches Vorgehen, indem dann auch auftretende Schwierigkeiten der DDR zu pragmatischen Entscheidungen führten. Nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten sah sich die DDR-Regierung genötigt, Valutabringenden Transfergeschäften zuzustimmen, bei denen die Kirchen den Gegenwert der gelieferten Waren in DDR-Mark gutgeschrieben bekamen.

Im April 1961 wurde rückwirkend zum Jahreswechsel 1960 ein Abkommen zur Regelung der Vergütung für die Angehörigen der Heil- und Heilhilfsberufe in evangelischen Krankenhäusern, Kliniken und Heilstätten unterzeichnet, durch das Schwestern und Pfleger konfessioneller Einrichtungen ein mit staatlichen Einrichtungen vergleichbares Gehalt bekamen. Das staatliche Zugeständnis war bei diesem Abkommen zudem die Anrechnung der sich erhöhenden Personalkosten auf die Pflegekostensätze. Die Versuche wurden eingestellt, die diakonische Arbeit durch Druck auf die Pflegekosten stark defizitär zu halten und so aus dem Gesundheitswesen auszugrenzen.

Eine Staatsratserklärung Ulbrichts im Oktober 1960, dass das Christentum und die humanistischen Ziele des Sozialismus keine Gegensätze darstellten, sollte Bereiche aufzeigen, in denen sich die antikirchliche Propaganda anderen staatlichen Interessen unterordnen sollte. Ihre Auswirkungen erfuhr diese Erklärung besonders auf solchen diakonischen Arbeitsfeldern, auf denen sich der Staat eine Entlastung für das Gesundheits- und Sozialwesen versprach. So wurde bei der Betreuung von Menschen mit geistigen Behinderungen eine Ausweitung diakonischer Arbeit gewünscht. Vor diesem Hintergrund wurden Verhandlungen über bauliche Erweiterungen und sogar Neubauten möglich. Bis dahin hatte die Diakonie kaum ihren baulichen Bestand erhalten können.

Die Diakonie trug nun zu Entlastungen im DDR-Gesundheits- und Sozialsystem bei, erfuhr dadurch selbst eine Stärkung und die SED begann, sich mit einem vorläufigen Fortbestehen dieser Seite der Kirche abzufinden. Der erfolgreiche Nachbarstaat, Bundesrepublik Deutschland, hatte eine hohe Attraktivität für die Menschen in der DDR und wurde von deren Partei- und Staatsführung als Existenzgefährdung empfunden.

Dem wurde mit verstärkter Abgrenzung begegnet. Zunächst mit dem Mauerbau. Der stoppte zwar die Abwanderung, aber verstärkte eher die Vorstellung der Menschen von einem besseren Deutschland. Als feindlich empfand die DDR den Zusammenhalt der Evangelischen Kirchen und ihrer Diakonie in der Bundesrepublik und der DDR. 1968 schuf sich die DDR eine neue Verfassung. Sie stärkte die Führungsrolle der SED, deren Beschlüsse erhielten Gesetzesrang. Der Aufbau des Sozialismus sollte forciert werden. Die Abgrenzung zur Bundesrepublik Deutschland wurde vertieft. Die Zusammenarbeit mit den Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik in der gemeinsamen Organisation Evangelische Kirche in Deutschland, wurde für illegal erklärt. Die Verfassungsrechte der Kirchen wurden erheblich verringert und sollten durch Vereinbarungen ersetzt werden. Um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern, schlossen sich die evangelischen Landeskirchen in der DDR zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammen. Der Zusammenhalt mit den evangelischen Kirchen und Christen in der BRD wurde in der Grundordnung des Kirchenbundes als besondere Gemeinschaft festgeschrieben und entgegen allen staatlichen Forderungen nicht aufgegeben.

Die Evangelische Kirche in Ost und West verzichtete auf eine offensive Wiedervereinigungsrhetorik, erklärte aber ihre Zusammengehörigkeit für unaufgebbar und lebte in der geduldigen Erwartung, dass die Teilung Deutschlands nicht das Ende aller Wege Gottes mit den Deutschen sein werde. Die Evangelische Kirche und ihre Diakonie in der Bundesrepublik und in der DDR haben wie keine andere Institution den Zusammenhalt der Deutschen bewahrt. Das geschah in vielen hundert Partnerschaften und tausenden Einzelbesuchen, die nach dem Mauerbau von West nach Ost nicht selten unter erheblichen Grenzschikanen erfolgt sind. Diese Kontakte bedeuteten für die Partner im Osten auch eine wichtige Ermutigung.

Es gab Kontakte auf den unterschiedlichsten kirchlichen und diakonischen Ebenen, es wurden Erfahrungen ausgetauscht, neue Ideen entwickelt, gemeinsame Planungen betrieben und Gestaltung von Hilfen für Menschen erörtert. Es wurde Literatur eingeführt. Gemeinsame Veranstaltungen, wie Bibelwochen und Partnerschaftstreffen wurden durchgeführt. Als ein Beispiel für institutionalisierte Partnerschaft sei die Zusammenarbeit zwischen Diakonischer Akademie in Stuttgart und dem Diakonischen Qualifizierungszentrum in Lobetal genannt.

Befördert und getragen wurde diese breite Bewegung für den Zusammenhalt der evangelischen Christen im geteilten Deutschland durch erhebliche materielle Unterstützung. Fehlende Mittel oder Materialien, insbesondere für bauliche, technische und medizin- technische Aufgaben wurden durch die westdeutsche Diakonie, die Evangelische Kirche und die Bundesregierung aufgebracht. In dem Valutamark-Programm wurden zwischen 1957 und 1990 etwa 1,4 Milliarden D-Mark transferiert. Darüber hinaus wurden ab 1966 für Bauprogramme ähnliche Summen für die Evangelische Kirche und die Diakonie in der DDR bereitgestellt. Das stärkte deren Eigenständigkeit und Unabhängigkeit im sozialistischen System der DDR und wurde zu einer wichtigen Handlungsvoraussetzung der evangelischen Kirche im Umbruch der Verhältnisse.

Die Diakonie in der DDR musste unter den von der SED diktierten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen einen eigenen Weg finden. Obwohl dieser Weg bis zur organisatorischen Eigenständigkeit führte, blieb die diakonische Arbeit in beiden Teilen Deutschlands eng miteinander verbunden und war eine Ebene innerdeutscher Beziehungen. Zahlreiche Partnerschaften zwischen westlichen und östlichen diakonischen Werken, Einrichtungen und Arbeitszweigen waren praktischer Ausdruck der in der Ordnung des Kirchenbundes bekannten besonderen Gemeinschaft der evangelischen Kirchen und Christen in Deutschland. Der Kirchenbund verstand sich als eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft der DDR und betonte seinen Auftrag „in dieser so geprägten Gesellschaft nicht neben ihr, nicht gegen sie“. Dabei wurde in der Publizistik der missverständliche Begriff „Kirche im Sozialismus“ verwandt. Die SED registrierte als positiv, dass der Kirchenbund von der Realität des Sozialismus in der DDR ausging, fand aber durch den eigenständigen kirchlichen Umgang mit dem Sozialismusbegriff ihre Deutungshoheit in Frage gestellt. Das zeigte 1972 die harte Reaktion des Staates auf ein Referat von Propst Falke vor der Bundessynode in Dresden.

Sein Kernsatz lautete: Christus lässt uns auf eine verbesserliche Kirche hoffen, unter seiner Verheißung werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus. Staat und SED sahen darin das Eindringen der Kirche in ihre Ideologie. Mit der Ost-West-Annäherung insbesondere im Prozess zur Verbesserung der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die in der Schlussakte von Helsinki 1975 deutlich wurde, wuchsen die Erwartungen auf einen Abbau der ideologischen Bevormundung und auf mehr Freiheiten in der DDR.

Die öffentliche Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz in Zeitz 1976, als Verzweiflungstat gegen die fortgesetzte Benachteiligung christlicher Kinder, schreckte den SED-Staat auf. Am 6. März 1978 proklamierte die Partei- und Staatsführung einen anderen Kurs gegenüber den Kirchen. Sie akzeptierte deren dauernde Existenzberechtigung, versprach Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Christen und gewährte eine Reihe praktischer Erleichterungen der kirchlichen und diakonischen Arbeit. Das Vergütungsabkommen konnte auf zusätzliche Berufsbilder ausgedehnt werden. Für die evangelischen Schwestern wurde eine Rentenregelung möglich. Es konnte erreicht werden, dass ein großer Teil der Ausbildung von mittleren medizinischen Fachkräften für evangelische Gesundheits- und Sozialeinrichtungen in eigenen Häusern erfolgte und einen staatlich anerkannten Fachschulabschluss erhielt. Wichtige Bauvorhaben wurden genehmigt und konnten von den westdeutschen Partnern finanziert werden.

Auf dem Hintergrund des entspannteren Verhältnisses von Staat und Kirche kam eine pragmatische Akzeptanz des SED-Staates gegenüber der Diakonie zustande. Die Arbeit kirchlich-diakonischer Einrichtungen wurde zu einem wichtigen Teil des Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR. Sie stellten schließlich rund 50 Prozent der in der DDR vorhandenen Plätze für Schwer- und Schwerstbehinderte. Die Arbeit der Diakonie erfolgte ohne Infragestellung ihrer kirchlichen Identität. Allerdings wurde der missionarische Anspruch der diakonischen Arbeit vom SED-Staat nur in den eigenen Einrichtungen geduldet. Eine Ausweitung in die allgemeine Öffentlichkeit wurde erschwert. Öffentliche volksmissionarische Großveranstaltungen wie das Lobetaler Jahresfest, blieben die Ausnahmen.

In der kirchlichen Jugendarbeit war das Thema Frieden virulent. Ihre Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zum Inbegriff der Kritik an den Verhältnissen. Der Wille zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung manifestierte sich 1988 und 1989 in ökumenischen Versammlungen evangelischer, katholischer und freikirchlicher Christen. Ihre formulierten Reformerwartungen wurden zu einer Magna Charta der friedlichen Revolution. Die Zeit zur Veränderung war reif.

Gorbatschow setzte 1985 mit Glasnost und Perestroika einen Kurs der Veränderung. Die DDR erfuhr internationale Anerkennung mit dem Höhepunkt des Bonn-Besuchs von Erich Honecker 1987. Viele Erwartungen brachen auf, doch die Partei- und Staatsführung war nicht zu Reformen bereit. Im Gegenteil, die Zügel wurden angezogen. Keine spürbaren Erleichterungen für Westreisen, keine Freiheit für Andersdenkende, keine Verbesserung des Wirtschaftssystems. Die Unruhe im Lande wuchs. Die Ausreisebemühungen Zehntausender machte das deutlich. Diakonische Einrichtungen gaben Schutz und Arbeit für die verfemten sogenannten „Antragsteller“. Es gab zunehmend öffentliche Protestaktionen, Montagsdemonstrationen in allen größeren Städten, die in der Regel in evangelischen Kirchen begannen. Als am 7. Oktober 1989 bei der Feier des 40. Jahrestages der DDR in Berlin eine friedliche Demonstration tausender Bürgerinnen und Bürger zum Palast der Republik brutal zusammengeschlagen wurde, sagte der auch anwesende Gorbatschow zur SED- Parteispitze „Das bringt nichts, so geht das nicht“. Die nächsten Montagsdemonstrationen standen für den 9. Oktober an. Die größte war in Leipzig zu erwarten. Die Sicherheitskräfte rechneten mit Steinwürfen, brennenden Parteizentralen, gelynchten Funktionären, um dann den starken Sicherheitskräften den Einsatzbefehl zu geben. Doch die in den Kirchen zur Gewaltlosigkeit aufgeforderten Demonstranten trugen Kerzen statt Steinen. Es gab keinen Einsatzbefehl. Am 16. Oktober dasselbe. Die Demonstrationen blieben unbehindert. Keine Gewalt von allen Seiten. Honecker wurde am 18. Oktober von seinen eigenen Leuten abgesetzt. Krenz erklärte am 19. Oktober der Leitung des Kirchenbundes seine Reformbereitschaft. Das war seine Antwort auf massive Forderungen der Synode des Kirchenbundes vom September 1989: „Bis Weihnachten können alle DDR-Bürger reisen, oppositionelle Meinungen und Parteien werden zugelassen, Wahlen werden freier, wirtschaftliche Verbesserungen werden eingeleitet“.

Die SED-Diktatur hatte kapituliert und mit dem Mauersturm am 9. November 1989 nahm das Volk der DDR sein Selbstbestimmungsrecht in Anspruch und wartete nicht mehr auf staatliche Gnadenakte. Der von den Kirchen organisierte und geleitete Runde Tisch gestaltete den Übergang der Macht von der Diktatur zu Demokratie und Rechtsstaat. Auch für die Sowjetunion wurde die Beruhigung der Lage und die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem Westen wichtiger als die gewaltsame Aufrechterhaltung der DDR. Die Menschen in der DDR konnten am 18. März 1989 frei wählen und entschieden sich für eine schnelle Wiedervereinigung.

Dann begann ein Sturzflug in die deutsche Einheit verbunden mit einem totalen Umbruch der Verhältnisse. In der Wirtschaft zerbrach am 1. Juli 1990 mit der Währungsunion die Staatsplanwirtschaft. Nun galt ab sofort der weltweite Wettbewerb. Absatzprobleme waren die Folge und schnell wuchs die Arbeitslosigkeit. Riesige Sozialleistungen für den Osten wurden nötig und machen bis heute die Masse des West-Ost-Transfers aus. Die Auswirkung auf die Menschen wurde zunächst verkannt. Sie mussten sich in Ostdeutschland in allen Lebensbereichen umstellen. Viele waren überfordert, verunsichert und oft hilflos. Eine besondere Herausforderung bestand im Wechsel von der Kollektivgesellschaft Ost zur hoch individualisierten und technisierten Gesellschaft West. Das bringt Orientierungsverluste auch durch die Pendelbewegung von der Bevormundung zur Freiheit. Nur auf das Individuelle zielende Freiheit kann auch Passivität angesichts sittlicher Verwahrlosung und Gewalttaten begünstigen. Unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung, negativer demographischer Entwicklung, sozialen Nöten und Isolierung kann der Zusammenhalt einer Gesellschaft verloren gehen. Aber inzwischen sind das keine Ostprobleme mehr. Heute fordern uns in ganz Deutschland die Probleme einer verwirrenden Gegenwart und einer unsicheren Zukunft. Obwohl die Welt immer enger zusammenwächst, werden die Unterschiede immer größer, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Die evangelischen Kirchen haben deutlich darauf hingewiesen, dass die Durchökonomisierung der Gesellschaft nicht nur zur Wirtschaftskrise geführt hat, sondern auch die humanen Werte angreift. Präses Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der EKD, hat diese Sorgen klar benannt. „Das politische Handeln kann nicht allein an der Renditeorientierung der Wirtschaft ausgerichtet sein. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Renditeorientierung der Wirtschaft ist nötig, aber sie muss sozialfähig sein und dem Zusammenleben der Menschen dienen.“

Die Kirchen, zu DDR-Zeiten in die Isolierung gedrängt, sind offen für Nichtchristen, und ihre sozialen und diakonischen Einrichtungen sind für alle bereit. Die strukturellen und finanziellen Nöte der Kommunen ließen sie nach freien Trägern für Kindertagesstätten, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen Ausschau halten. Evangelische Kirche und Diakonie, aber auch die katholische Kirche, die Caritas, haben hier geholfen und auch die missionarische Chance solcher bevölkerungsoffener Angebote erkannt. Eine große Herausforderung brachte das Bildungswesen. Zunächst nur zögerlich, inzwischen auf Grund wachsender Nachfragen in großer Zahl, wurden kirchliche Grundschulen und Gymnasien gegründet. Häufig in diakonischen Einrichtungen. Der Staat fördert diese Schulen und der Anteil nicht kirchlich gebundener Schüler ist hoch. In diesen Schulen werden christliche Werte vermittelt. Die Kinder bringen Glaubensfragen und Kirchenkunde in die Familiengespräche.

Eine beglückende Erfahrung sind vielfältige Initiativen zur Rettung und Nutzung von Dorfkirchen. Sogar schon aufgegebene Kirchen, die dennoch ein kulturhistorischer Mittelpunkt der Gemeinde sind, werden in Zusammenarbeit von Gemeindegliedern, ortsansässigen Nichtchristen und häufig auch Unterstützern aus Westberlin, Westdeutschland, dem Ausland instand gesetzt. Für diese alle gehört die Kirche zum Dorf. Ist Identifikationsmerkmal und gemeinsames Erbe, das zu bewahren ist. Diese Kirchen werden in der Regel für kirchliche Veranstaltungen und auch kulturelle Veranstaltungen genutzt. Hier möchte ich erinnern, dass der Anteil nichtchristlich gebundener DDR-Bürger an der Entstehung eines neuen Deutschland groß, und ich glaube sogar entscheidend, ist. Das Zusammenwirken von Christen, Humanisten und Atheisten hat Deutschland vor 20 Jahren verändert und ihre Zusammenarbeit hat in den letzten 20 Jahren den Wiederaufbau der ostdeutschen Länder getragen. Für Christen wäre es eine unangemessene Haltung, die Bedeutung der ostdeutschen nichtkirchlich gebundenen Bevölkerungsmehrheit zu verkennen. Die Bewältigung der Zukunftsherausforderungen braucht die Zusammenarbeit aller Gutwilligen.

In der theologischen Debatte in Ostdeutschland ist das Interesse an den Erfahrungen aus der DDR-Zeit gewachsen, um Anregungen für den künftigen Dienst zu gewinnen. Damals waren neue Formen des Gemeindelebens entstanden. In Hausgemeinden und Dienstgruppen wurde das Angebot der Kirche möglichst nahe zu den Menschen gebracht. Der Anteil von Laien am Zeugnis und Dienst war groß, weil sie überzeugend christliche Existenz vorlebten.

Die Annahme der Diaspora-Situation mit der Erprobung neuer Gemeindestrukturen und einer Neuinterpretation des Evangeliums in einer säkularen Gesellschaft ist heute genauso nötig wie vor 20 Jahren, denn die Rückkehr der volkskirchlichen Strukturen nach der kirchlichen Wiedervereinigung hat die Minderheitensituation nicht verändert. Es bleibt wichtig, die geistliche Dimension kirchlich-diakonischer Arbeit deutlich werden zu lassen. Räume meditativer Praxis sind nötig. Geistliche Begleitung und Seelsorge sind erforderlich. Auch die Bedeutung von Exerzitien, gregorianischem Singen oder Pilgern wächst.

Das Leben in der DDR war für die Evangelische Kirche und ihre Diakonie keine verlorene Zeit. Es war eine Lern- und Dienstgemeinschaft und sie brachte Erkenntnisse von bleibendem Wert:

  1. Evangelische Kirche und Diakonie gehören zusammen. Wolfgang Huber spricht von diakonischer Kirche mit Zukunft. Evangelische Kirche hat gelernt, dass Diakonie ein Wesensmerkmal ihres Dienstes ist. Diakonie hat erfahren, dass sie Kirche ist und von der Gesellschaft so gesehen wird.
  2. Nicht Ideologien, der Zeitgeist oder mediale Aufgeregtheiten bestimmen die Zukunft von Kirche und Diakonie. Sie haben erfahren, dass Gott ihren Dienst braucht und nur er ihre Zukunft bestimmt. Sie erlebten, dass der lange Atem der Glaubenskraft stärker ist als alle weltlichen Mächte.
  3. Gott weist Kirche und Diakonie an die Nöte der Einzelnen und der Gesellschaft. Sie sind diakonische Kirche für andere und nicht ersetzbar. Nicht gesellschaftliche Opportunität oder öffentliches Lob, sondern nur das Gebot der Nächstenliebe muss sie bestimmen, um sich den Benachteiligten und den Schäden der Gesellschaft zuzuwenden.
  4. Eine kleiner gewordene christliche Gemeinde kann in der Zusammenarbeit mit Nichtchristen Vertrauen gewinnen und zusätzliche Kräfte im Einsatz für das Wohl der Menschen erschließen. Christen können gemeinsam mit allen Gutwilligen große Probleme lösen.
  5. Kirche und Diakonie kennen die Lebenswirklichkeit der Menschen. Christliche Gemeinden und diakonische Einrichtungen sollen ihre Erfahrungen und Möglichkeiten zusammentun, um wachsender Armut sozialer Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit entgegenzuwirken und die lokalen Sozialräume zusammenzuhalten. Die DDR-Erfahrungen ermutigen mit allen Kräften unabhängig von ihrer Weltanschauung zusammenzuarbeiten, um der Globalisierung ein menschliches Antlitz zu geben. Christen sollten dabei nicht durch Bevormundung, sondern Vorbild überzeugen.
  6. Kirche und Diakonie haben erlebt, dass die gewachsene geistliche Gemeinschaft der evangelischen Christen in Deutschland Mauern überwinden kann. Das ist auch ein Auftrag heute, Missverständnisse und Vorurteile zwischen Ost- und Westdeutschen mit geduldigen Gesprächen und in praktischer Zusammenarbeit zu überwinden.
  7. Evangelische Kirche und Diakonie waren wie katholische Kirche und Freikirchen in der gleichen Bedrängnis durch den kirchenfeindlichen Staat der DDR. Ökumenische Zusammenarbeit wurde eine Lebensfrage und Zeugnis für die Echtheit christlicher Botschaft. In der zunehmenden gemeinsamen Diaspora-Situation sollte ökumenische Zusammenarbeit als Kern christlicher Botschaft und kirchlich diakonischen Handelns wirken.
  8. Kirche und Diakonie in der DDR haben gelernt, dass auch in eigenen Bedrängnissen die großen Nöte in der Welt nicht vergessen werden dürfen. Sie haben erlebt, wie internationale ökumenische Solidarität eigene Lasten leichter werden lässt. Auch eine eingesperrte Evangelische Kirche und ihre Diakonie konnten Helfer für weltweite Nöte sein und dabei Segen empfangen.

Die Hoffnungstaler Anstalten Lobetal haben in besonderer Weise diakonisch kirchliche Verantwortung wahrgenommen. Als große Einrichtung und Einheit von politischer und Anstaltsgemeinde haben sie große Herausforderungen aber auch Chancen gehabt. Nur in dieser kirchlich-diakonischen Gemeinde konnte der obdachlose Staatsratsvorsitzende und Parteichef Honecker mit seiner Frau Aufnahme finden. Hier wurde nicht Rache, sondern Versöhnung geübt. Ein Erbe, das christlicher Tradition entspricht und nach den Diktaturen in Südafrika und Spanien praktiziert wird. Aber in Deutschland zu wenig Beachtung findet.

Lobetal hat seinen Arbeitsumfang verdreifacht und viele Mitarbeiter dazugewonnen. Gestärkt und aus DDR-Erfahrungen gefestigt, ist Lobetal zu einem großen kirchlich-diakonischen Werk geworden, das sich nun künftigen Herausforderungen mit der Struktur einer Stiftung stellt. Die dabei nötige Auflösung des Vereins bringt Wehmut. Aber das reiche kirchlich-diakonische Erbe von Lobetal-Hoffnungstal kann in neuer Rechtsform besser wirksam werden. Auch ich werde meine Mitgliedschaft im Verein Hoffnungstaler Anstalten verlieren. Aber gern werde ich im neuen Förderverein Lobetal dabei sein.

Gott segne diesen Dienst.

25. November 2010 im KEH Berlin

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