Grußwort zum Neujahrsempfang der Stadt Zossen, der Evangelischen Kirchengemeinde und des Heimatvereins „Alter Krug“ (Auszüge)

Ich bin auch gekommen, weil mir als Zeitzeuge sehr daran liegt, die Bedeutung von Zossen-Wünsdorf bei der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung zu erinnern.

Vor 25 Jahren hat das Volk der DDR sein Selbstbestimmungsrecht wahrgenommen, dadurch die deutsche Einheit ermöglicht und die Rückgabe der Souveränität an Deutschland durch die Siegermächte bewirkt.

1989 brach sich die Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung Bahn. Die Forderungen nach Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Mitbestimmung, eine unabhängige Gerichtsbarkeit und eine effektive Wirtschaft wurden unüberhörbar. Von September bis Dezember 1989 gingen von Rostock bis Plauen, von Halberstadt bis Zittau jeden Montag Hunderttausende mit der Forderung nach einer besseren DDR auf die Straße. Und auch in der Zossener Dreifaltigkeitskirche sammelten sich viele Menschen zum Protest.

In hunderten von evangelischen Kirchen sammelten sich im Herbst 1989 die unzufriedenen Bürger und drängten auf die Straße. In jeder Kirche wurde eindringlich die Gewaltlosigkeit gefordert:

Kerzen tragen statt Steine werfen

Dialog mit den Funktionären fordern statt sie zu lynchen

Akten sichern statt Gebäude anbrennen

Ganz anders als im Juni 1953!

Doch in mir steckte die Erinnerung an die Revolution von 1953 und ihre blutige Niederschlagung durch sowjetische Panzer. Was wird das Oberkommando in Zossen-Wünsdorf entscheiden? Ich befürchtete die Niederschlagung der Protestbewegung durch die sowjetischen Streitkräfte und die Nationale Volksarmee.

Gott sei dank blieben sie alle in den Kasernen.

Nach 1990 habe ich jede Gelegenheit genutzt, um die Generale von Zossen-Wünsdorf zu fragen, warum sie nicht eingegriffen haben. Und zuletzt hatte ich im September 2014 dazu Gelegenheit. Die Antwort war immer gleich: Gorbatschow hat von uns Nichteinmischung verlangt, aber wenn uns unsere Waffenbrüder von der NVA gerufen hätten, wäre es eine Frage der militärischen Ehre gewesen und wir wären marschiert. Die Waffenbrüder der NVA riefen nicht. Das Kommando der Landstreitkräfte in Potsdam-Eiche hatte entschieden „Solange es friedlich bleibt, greifen wir nicht ein“.

Aber die Lage war politisch unhaltbar. Nachdem am 3. Oktober in Dresden und am 7. Oktober in Berlin die Demonstranten gewaltsam auseinander getrieben wurden, blieben die Montagdemonstrationen am 9. Oktober weithin unbehelligt. Ebenso am 16. Oktober. Am 18. Oktober beantragte der 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED in Potsdam, Günter Jahn, im Zentralkomitee der SED die Absetzung Honeckers. Der trat zurück.

Am 19. Oktober 1989 versprach der neue Generalsekretär der SED Egon Krenz in Arbeiterversammlungen, in einem Gespräch mit dem Vorstand der Evangelischen Kirche der DDR und im Fernsehen: „Es wird vieles geändert, den Forderungen wird entsprochen und es gibt eine Wende der Politik“. Viele Ideen für eine bessere DDR wurden laut. Eindrucksvoll bei fast einer Million Menschen am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Doch Reden und Ankündigungen genügten den Menschen nicht mehr. Die Geduld war zu Ende. Vor allem die Reiseverweigerung wurde für viele unerträglich.

Am 9. November 1989 stürmte das Volk die Mauer und nahm sein Selbstbestimmungsrecht wahr. Der Mauerfall symbolisiert den Übergang von der Wende in der DDR zur Forderung nach der deutschen Wiedervereinigung. Nun konnte man den Westen und die D-Mark erleben! Alle Ideen für eine bessere DDR wurden für die Mehrheit der Bevölkerung uninteressant.

Nach all den großen Demonstrationen gegen die SED-Diktatur im Herbst 1989 kommentierten die Diplomaten der USA, Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion: „Nun wird die DDR anders, aber sie bleibt bestehen auch als Teil des Ostblocks“.

Ab dem 9. November bewegte sie die Sorge vor Chaos, Bürgerkrieg und dem Ende der begonnenen Ost-West-Zusammenarbeit. Wie kann die Lage beruhigt werden? Was will das Volk?

Die Antwort hieß: So schnell wie möglich freie Wahlen. Alle vier Mächte, die die deutsche Souveränität wahrnahmen, stimmten zu. Auch der sowjetischen Führung war die Zusammenarbeit mit dem Westen wichtiger als eine gewaltsame Aufrechterhaltung der DDR. Am 18. März 1990 entschied sich die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung für eine schnelle Wiedervereinigung. An dieser demokratischen Entscheidung des Volkes kam niemand vorbei. Gegen einige Vorbehalte aus Großbritannien und Frankreich brachte dann das eindeutige Votum der polnischen Regierung Masowiecki für die Wiedervereinigung den Durchbruch.

Die DDR konnte am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik Deutschland beitreten. Es wurde ein Sturzflug in die deutsche Einheit, bei dem Probleme und Unterschiede nicht voll erkannt wurden und in der Kürze der Zeit nicht lösbar waren. Es wurde „auf Sicht gefahren“, was insbesondere beim Übergang von der staatlichen Planwirtschaft zur Wettbewerbswirtschaft dramatische Folgen für den Bestand von Unternehmen und Arbeitsplätzen hatte.

Regine Hildebrandt und ich sahen, welche Probleme auf die Menschen hier zukommen und bemühten uns, nach der Wiedergründung des Landes Brandenburg um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, um Hilfe für gefährdete Unternehmen, um Neuansiedlungen und wir haben ermuntert, sich selbstständig zu machen, Initiativen zu ergreifen „Wer abwartet hat schon verloren“. Sie in Zossen haben viel bewegt.

Aber das Tempo war nicht zu bremsen. Die bevorstehenden Bundestagswahlen im Dezember 1990 ließen die großen Parteien auf Stimmen aus dem Osten hoffen, wenn die Wiedervereinigung vorher erfolgt. Bei unserer Bevölkerung kam gut an, wer eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse versprach.

Im Nachhinein musste ich erkennen, dass das Volk spürte, dass das „Fenster der Geschichte“ für eine Wiedervereinigung nicht unbefristet offen steht. Am 21. August 1991 wurde Gorbatschow gestürzt, die Sowjetunion aufgelöst und ging damit als Verhandlungspartner der Sieger für die Wiedervereinigung verloren.

Wir hatten inzwischen die Wiedervereinigung. Aber würden die Russen zu den Verträgen stehen?

Und wieder kam es auf Zossen-Wünsdorf an. Noch am gleichen Tag fuhr ich dorthin. Und hörte vom Oberkommandierenden Marschall Burlakow: „Wir halten Wort, unser Abzug wird pünktlich fortgesetzt. Egal, was die in Moskau sagen“. Wenig später kam der neue russische Präsident Jelzin. Hans-Dietrich Genscher und ich begleiteten ihn nach Zossen-Wünsdorf. Jelzin verkündete dort, der Abzug geht weiter. Wir halten Wort. Im Vertrauen auf die mündlichen Zusagen des Westens und mit viel Sympathie für Deutschland verließen die russischen Truppen im September 2004 Zossen-Wünsdorf.

Es tut weh, wenn die Westmächte und Deutschland heute erklären. Wir haben nicht schriftlich versprochen, dass die NATO nur bis zur Oder kommt und Russland nicht einkreisen will. Die Entwicklung lief anders. Warnende Stimmen wie Frank-Walter Steinmeier forderten, mit den Russen über die Osterweiterung der Europäischen Union zu reden und bei der Ukraine nie zu vergessen, dass sie für die russische Mentalität und Sicherheit ein zentrales Thema ist. Jeder Russe sagt mir heute „Wir wurden belogen und betrogen, können wir euch Deutschen noch vertrauen?“

Wir stecken in einer schweren außenpolitischen Krise. Abgrenzung und Entfremdung nehmen zu. Feindliche Töne sind zu hören und erst recht gilt „wer die Beziehungen von Nationen verstehen will, muss sich mit ihrer Geschichte und Geografie befassen“.

Wenn Zukunft gesichert werden soll, gibt es zu einer Kooperation der Europäischen Union und Deutschland mit Russland keine vernünftige Alternative. Sie hier in Zossen-Wünsdorf, wir in Brandenburg haben gelernt, dass man mit den Russen auskommen kann, wenn man ihre Besonderheiten berücksichtigt. Wir sollten unsere Kontakte zu Russland pflegen und in der Inlandsdebatte für Sachlichkeit eintreten. Auch mit Leserbriefen zu unvernünftigen Artikeln in den Zeitungen.

Ein wichtiges Datum wird der 9. Mai 2015. 70 Jahre Sieg über das Nazi-System. Ein Tag, wo wir mit Richard von Weizsäcker von Befreiung reden sollten. Den Russen ist dieser Tag sehr wichtig und Deutschland und jeder von uns kann Friedenszeichen setzen. Schon Postkarten können helfen und auf Zossen-Wünsdorf wird besonders geachtet!

Manfred Stolpe

am 3. Januar 2015