Immer wieder Brandenburg

Es ist gut, dass für Berlin tätige Journalisten sich häufig mit Brandenburg befassen. Das ist für uns Brandenburger ein Vorteil. Allerdings fällt eine Neigung auf, Negativschlagzeilen zu suchen, so als ob Brandenburg das Land von Neonazis, Rassisten, Kindesmörderinnen, Stasiseilschaften und Politikerfilz wäre. Der unkundige Leser kann den Eindruck gewinnen, dass Berlin von einem Gruselland umgeben ist, in dem sich Wölfe wohl fühlen, die
inzwischen auf 5 Rudel, 3 Paare und einige Einzelgänger herangewachsen sind.

Es ist Aufgabe der Journalisten, Auffälliges herauszustellen. Und es gab auch in Brandenburg erschreckende Ereignisse. Meine Sorge ist aber, dass sich ein Negativbild verfestigen könnte. Das beunruhigt mich. Vor allem wegen meiner tiefen Überzeugung von der Zusammengehörigkeit der Region Berlin-Brandenburg. Berlin und Brandenburg,
die Metropole und das märkische Umland, sind eine Region der Gegensätze und der Gemeinsamkeiten. Diese unterschiedlichen Teile waren in ihrer Geschichte aufs engste miteinander verknüpft. Über 700 Jahre gehörten die Residenzstadt Berlin und die Mark Brandenburg zusammen – politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch. Die enge Verknüpfung der Metropole mit dem Land wurde durch die deutsche Teilung radikal unterbrochen. Schmerzliche Trennungslinien an der Grenze zwischen Ost und West machten täglich deutlich, dass hier der Zusammenhang und der Austausch auf widernatürliche und brutalste Weise zum Erliegen gekommen waren.

Hauptverlierer des großen Krieges und Opfer der deutschen Teilung waren Berlin und Brandenburg. Westberlin in der Dauerbedrohung und erzwungenen Isolierung, Brandenburg und Ostberlin in einer Diktatur mit Beseitigung der Meinungsfreiheit, Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender, ideologischer Bevormundung, Freiheitsberaubung und
Mangelwirtschaft. Darin habe ich gelebt. Als Schüler und Mitglied der Jungen Gemeinde entging ich der Entfernung aller aktiven Mitglieder der Jungen Gemeinde von der Schule vor dem Abitur nur, weil ich noch zu jung war. Den Volksaufstand am 17. Juni 1953 erlebte ich voller Erwartung auf Veränderungen und mit der prägenden Erfahrung seiner gewaltsamen Niederschlagung. Der Westen konnte nicht helfen, auch nicht als wir 1961 eingemauert
wurden. Aber die Verbindungen zum deutschen Westen konnten nicht beseitigt werden.

Zehntausende Besucher aus der Bundesrepublik, darunter sehr viele Westberliner, die sich einen Bundespass beschafft hatten, kamen trotz aller Schikanen zu Besuch.

Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg ließ sich nicht zur Teilung zwingen und die Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR förderten ein breites Netzwerk von Gemeindepartnerschaften. Kurt Scharf und Reymar von Wedel mit Unterstützung aus Bonn durch Hermann Kunst und Heinz-Georg Binder in Verbindung mit der Bundesregierung waren für mich als Kirchenjurist wichtige Verbindungspartner. Sie unterstützten die Kirche
im Osten mit Finanzmitteln, Engpassmaterialien und Medikamenten. Sie waren Nothelfer für Verhaftete, Schwerstkranke, Ausreisetraumatisierte. Wir nutzten jede Gelegenheit und jede Gesprächsmöglichkeit, um Erleichterungen für Menschen in der DDR zu erreichen.

Die Ostpolitik der Bundesregierung bis hin zur Einbindung der DDR in den Pakt für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit seinen Menschenrechtszusagen stärkten meine Erwartung auf Erleichterungen und Veränderungen. Die DDR-Führung allerdings versuchte verzweifelt, den Spagat zwischen der außenpolitischen Öffnung mit Annäherung an die Bundesrepublik und der Beibehaltung innerpolitischer Repressionen. Als dann selbst die Führungsmacht Sowjetunion unter Gorbatschow Veränderungen einleitete, war ich mir sicher, dass Reformen kommen werden. Ich wollte Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Gerechtigkeit, Ende der Benachteiligung, insbesondere junger Christen und eine unabhängige Gerichtsbarkeit – auch über Verwaltungsentscheidungen. Ich unterstützte systemkritische kirchliche Gruppen durch Vermittlung von Räumen und Vervielfältigungsmaterial. Allerdings war meine Überzeugung, dass Veränderungen nur unter Vermeidung von Zuspitzungen ohne Gewalt möglich waren. Denn ich kannte die Macht der Sowjettruppen und der bewaffneten Kräfte in der DDR. In meiner Generation saßen die Erfahrungen des Krieges, der blutig niedergeschlagenen Aufstände von 1953, 1956 und 1968 sehr tief. Im Sommer 1989 hatte ich große Sorge vor einem Gewaltausbruch. Ich hatte in diesen Wochen oft mehr Sorge als Zuversicht. Mit Respekt und Dank sehe ich auf jene Menschen, die entschiedener auf den Wandel drängten und den Staatsorganen offen widerstanden. Doch eine friedliche Veränderung hielt ich für wahrscheinlich. Eine Wiedervereinigung Deutschlands habe ich erst nach weiteren Jahren der Annäherung und Verflechtung von Ost und West für möglich gehalten. Doch dann kamen die sich überstürzenden Ereignisse des Herbstes 1989 mit großen Demonstrationen im ganzen Lande für Demokratie und Freiheit, aber auch der Verzicht der Machthaber auf Waffengewalt.

Die Spontanität der Volksbewegung in der DDR erschreckte nicht nur die Führungen der DDR und der Sowjetunion, sondern auch die westlichen Siegermächte. Intensiv wurde ich als leitender Jurist der Evangelischen Kirche von Vertretern der vier Mächte gefragt. Baker, Mitterand, Jakowlew und Primakow gehörten dazu. Alle wollten wissen, gibt es jetzt Chaos und Bürgerkrieg in der DDR. Sind internationale Spannungen und Konfrontationen in Europa
die Folge. Meine Antwort konnte nur sein, am Tag des Mauersturms haben die DDR-Bürger ihren Freiheitswillen durchgesetzt und ihr Selbstbestimmungsrecht wahrgenommen. Nur freie Wahlen könnten neue Ordnung und neue Stabilität schaffen. Schließlich kam das Politbüro der KPdSU Anfang 1990 zu dem entscheidenden Beschluss, dass die Fortsetzung der Ost-West-Annäherung wichtiger sei als die gewaltsame Aufrechterhaltung der DDR.

Das Wunder der Einheit geschah. Ein kleines Wunder nach diesem großen Wunder war die Wiedergeburt Brandenburgs. Brandenburg war ein vergessenes Land. Thüringer und Sachsen hatten auch in der DDR noch eine Identität. Das Land zwischen Elbe und Oder aber war geschichtslos geworden. Das war Staatspolitik. Die Hauptursache dafür war, Brandenburg als Kernland Preußens zu treffen. Denn Preußen galt als Wegbereiter des Nazisystems und Wurzel konservativer Kräfte in der Bundesrepublik. Wer von Brandenburg sprach, war als Preußenanhänger verdächtig. An Brandenburg zu erinnern, könnte ja dem Westen einen Einstieg in die Beseitigung der sozialistischen DDR erleichtern.

In der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg konnte Brandenburg nicht vergessen werden. Und die Erinnerung wurde gepflegt. Es gab Pfarrkonvente, die hin und wieder das Brandenburg-Lied sangen. Dort lernte ich das Lied und den Roten Adler kennen. Aus Westberlin konnte ich mir Aufkleber mit dem Roten Adler beschaffen, die ich auf mein
Auto klebte und auch weitergab. Tief erschrocken war ich allerdings, als mich ein sonst hoch gebildeter Bekannter auf diesen Roten Adler ansprach und fragte, wie ich denn nach Tirol gekommen sei. Der Mann kannte den Roten Adler als Wappen von Tirol. Aber wusste nichts vom Land Brandenburg und seinem Wappentier. Das Land Brandenburg mit seinem Symbol war vergessen.

Als dieses Land 1989 wieder möglich wurde, galt es, seine Wurzeln und Traditionen wieder zu entdecken. Brandenburg-Preußen war für mich auch verbunden mit der Erinnerung an die Wiederaufbauleistungen infolge der Zerstörungen nach dem 30-jährigen Krieg und dem 7-jährigen Krieg durch Überlebenswillen, Fleiß, Toleranz, Einbeziehung aller Gutwilligen und Anwerbung vieler Helfer aus anderen Ländern. Unsere Lage war vergleichbar. Nur dass wir nicht wie damals die Helfer aus Holland, Frankreich oder Österreich werben mussten, sondern Aufbauhelfer vor allem aus Nordrhein-Westfalen aber auch aus Berlin-West gewinnen konnten. Es waren zumeist selbstlose Helfer, die verhinderten, dass wir wie Blinde im für uns völlig neuen Rechts- und Wirtschaftssystem herumirrten. Es waren Menschen, die anfangs unter sehr schwierigen Bedingungen Verwaltung, Medien, politische und soziale Organisationen in Gang brachten.

Der Umbruch beseitigte die staatliche Kontrollwirtschaft und führte den Markt als Bestimmungskraft über die Existenz von Betrieben ein mit verheerenden Folgen für tausende Unternehmen und hunderttausende Arbeitsplätze. Es war ein totaler, sozialer und mentaler Umbruch, der die Menschen einem beispiellosen Veränderungsprozess aussetzte.

Die Diktatur hatte eine große Bürde hinterlassen. An erster Stelle das Unrecht, das die Lebensläufe vieler Menschen bedrängt hatte. Ich war der Auffassung, was strafrechtlich relevant war, musste mit den Mitteln des Rechts aufgeklärt und bestraft werden. Dabei musste der Grundsatz gelten, Recht, nicht Rache. Unser erster Justizminister Hans-Otto Bräutigam hatte davon klare Vorstellungen. Recht, nicht Rache, Wahrheit und Versöhnung war der Weg, den wir eingeschlagen haben. So hatte es mir persönlich der südafrikanische Erzbischof Desmondo Tutu, ein Vertrauter von Nelson Mandela nahegelegt.

Die erste Regierung im neuen Brandenburg haben SPD, FDP und Bündnis 90 gebildet. PDS und CDU waren im Landtag die Opposition und doch haben wir bis 1994 15 Gesetze von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht und beschlossen. Wir wollten in schwieriger Zeit den großen Herausforderungen gemeinsam begegnen. „Konsensdemokratie“ nannten es
manche Beobachter abfällig. Mir war es aber wichtiger als eine „Konfrontationsdemokratie“ mit parteipolitischer Rechthaberei unter Vernachlässigung der Landesinteressen. Am 14. Juni 1992 wurde eine von allen Parteien des Landtags gemeinsam erarbeitete Verfassung in einer Volksabstimmung mit 94 % bestätigt. Das ist eine Verfassung, die als einzige ostdeutsche Verfassung den Entwurf des Runden Tisches 1990 aufnahm und in seiner Präambel zu
Recht, Toleranz und Solidarität verpflichtet. Später hat man unsere Bereitschaft, ja unsere Stärke, Kompromisse zu schließen, um möglichst viele mitzunehmen, den „ Brandenburger Weg“ genannt. Doch wir haben gelernt, uns wegen unserer Unterschiede nicht zu verteufeln.

Einfältig von mir war, dass ich die Wirkung unserer Andersartigkeit auf westliche Betrachter unterschätzt habe. Den von Berliner Fusionsgegnern als Verleumdung Brandenburgs gedachten Vorwurf „kleine DDR“ durfte ich nicht verniedlichen, sondern musste sehen, dass er böse Erinnerungen an das Rote Meer um Westberlin bediente. Ich habe in der DDR gegen die politische Diktatur für Respekt und Würde für Andersdenkende gekämpft und gelernt, differenziert über Menschen zu urteilen. Ich bin nicht bereit, unter neuen Vorzeichen anders zu handeln.

Ich bin stolz auf das alte Land Brandenburg und seinen Wiederaufbau in den letzten 20 Jahren. Wir haben 47 Industriekerne gesichert und zahlreiche industriebezogene Dienstleistungen ermöglicht. Die Stahlstandorte Eisenhüttenstadt, Hennigsdorf und Brandenburg an der Havel, die Chemieindustrie in Schwarzheide, Schwedt und Guben sowie die Fahrzeugindustrie in Ludwigsfelde haben wir gegen manche Ratschläge gemeinsam mit den Belegschaften sichern können.

Wir haben historische Stadtkerne und die Infrastruktur des Landes innerhalb weniger Jahre rekonstruiert und modernisiert. Wir haben Universitäten gegründet und Forschungsstätten angesiedelt. Wir konnten für Brandenburg Freunde und Förderer im Westen aber auch im Osten diesseits und jenseits der Grenzen gewinnen.

Wir haben von Anfang an auf enge Zusammenarbeit mit Berlin gesetzt. Nach dem Scheitern der Volksabstimmung über die Bildung eines Landes Berlin-Brandenburg haben wir auf vertiefte verbindliche Kooperation gesetzt, die uns zum Beispiel gemeinsame Gerichte, eine gemeinsame Rundfunkanstalt und den Flughafen Berlin-Brandenburg International gebracht hat. Eine übereilte Fusionsdebatte brauchen wir nicht. Aber wir brauchen den entschlossenen Willen zur guten Zusammenarbeit. Die weltweite Globalisierung stellt Anforderungen an die Wettbewerbsfähigkeit, auf die wir als eine einheitliche Region antworten müssen. Brandenburg als Flächenland und Berlin als eine hochverdichtete Metropole ergänzen sich zu einer Region mit vielseitigen Entwicklungspotenzialen. Berlin und Brandenburg bilden eine ideale Metropolenregion, die sich in ihren Stärken ergänzt. Sie ist unsere Zukunft.

Diese Zukunft wird kein Spaziergang. Wir stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Wir erleben eine starke Differenzierung, ja Polarisierung in der Gesellschaft bei wachsender Armut vieler und wachsendem Reichtum weniger. Das kann zu schweren Verwerfungen führen, wenn nicht stärker auf soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt der Gesellschaft geachtet wird.

Die in Berlin weithin gelungene Integration Zehntausender Zuwanderer aus anderen Ländern und Kulturkreisen ist ein Glücksfall für die ganze Region, fördert ihre Attraktivität durch Liberalität und Weltoffenheit. Wir in Brandenburg müssen diese Entwicklung noch nachvollziehen. Uns fehlt die Erfahrung multikulturellen Zusammenlebens. Hinzu kam, dass die von Ulbricht eingeleitete Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik, die das Bewusstsein einer nationalen Zusammengehörigkeit in Deutschland ausmerzen wollte, das Gegenteil bewirkte. Deutsch zu
sein, war tiefe Überzeugung und auch Hoffnung, selbst bei nach dem Mauerbau Geborenen.

Die neue Freiheit nach 1989 brachte Verunsicherungen, Ängste um Arbeitsplätze und die Sorge, zweitklassig in Deutschland zu sein; vielleicht sogar drittklassig erst nach den vielen zugewanderten inzwischen erfahrenen Bundesbürgern ausländischer Wurzel.

Es kamen Naziführer in den Osten und propagierten Nationalstolz, Rassismus, Ausländerhass und fanden zu meinem Entsetzen Anhänger. Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben. Glaubte an Einzelfälle. Doch die hörten nicht auf, sondern wurden mehr. Ich begriff, dass diese Situation nicht allein mit Polizei und Justiz zu ändern war. Wir brauchten die Unterstützung aller Gutwilligen, aller demokratischen Parteien, aller gesellschaftlichen Organisationen von den Kirchen bis zu den Sportverbänden, um ein weltoffenes tolerantes Brandenburg zu schaffen. Wir brauchten einen landesweiten gesamtgesellschaftlichen Verbund gegen Gewalt und für Menschenfreundlichkeit.

In diesen Tagen haben wir uns an 15 Jahre Aktionsbündnis gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt erinnert und konnten feststellen, dass viele Menschen weltoffener geworden sind und verstehen, dass Zivilcourage und gemeinsames Handeln mit Mitmenschen anderer Herkunft, Hautfarbe und Kultur für jeden einzelnen und das ganze Land ein Gewinn ist. Das bleibt allerdings eine ständige Aufgabe, wie zum Beispiel kürzlich Nazischmierereien an einer
Zeitungsredaktion zeigten.

Eine große Herausforderung für die Länder Berlin und Brandenburg ist die Konsolidierung ihrer Finanzen. Brandenburg ist bemüht, in wenigen Jahren schuldenfrei zu sein. Berlin hat es weitaus schwerer. Auch weil die Metropole viele Leistungen für Brandenburg und weit darüber hinaus vorhält. Aber die Bereitschaft der finanzstarken Bundesländer und des Bundes zu Unterstützungen nimmt ab. Und der Tag ist nicht mehr fern, an dem massiver Druck zu Einsparungen und möglicherweise Länderfusionen aufgebaut wird. Ich erinnere mich noch
lebhaft an nächtelange Diskussionen mit den Länderministerpräsidenten um die Verlängerung des Solidarpaktes. Es macht Sinn, die Kooperation zwischen Berlin und Brandenburg auszubauen und nicht erst von Bundesregelungen überrollt zu werden.

Berlin und Brandenburg sind eine Hauptstadt-Metropolen-Region. Politik sollte das gezielter fördern und Journalisten könnten es bei ihrer Arbeit mehr berücksichtigen. Es soll einzelne Brandenburger geben, die noch nie in Berlin waren. Es soll einige Berliner geben, die noch nie in Brandenburg waren. Das ist nicht gut, denn gemeinsame Zukunft beginnt beim Kennenlernen, Zuhören, Verstehen und Tolerieren von Unterschieden. Mit Berliner
Kreativität und Internationalität sowie Brandenburger Weite und Beharrlichkeit können wir eine der stärksten Wachstumsregionen in Europa sein. Das darf nicht durch Brandenburger Sturheit und Berliner Hochmut behindert werden.