In die Pflicht genommen
Von Anfang an war es mein Auftrag bei der Kirche, mit den Staatsorganen zu reden. Kollegen mit einer alten Juristenausbildung wollten diese Aufgabe nicht übernehmen. Ich hatte keine Berührungsängste, zumal ich manche meiner Kommilitonen in staatlichen Funktionen wieder traf. Es ging dabei immer um die Frage: Was kann die Kirche für die Menschen in der DDR tun?
Meine Arbeitstage im Sommer 1989 waren sehr ausgefüllt. Kirchengemeinden in der ganzen DDR luden mich zu politischen Veranstaltungen ein. Ich sprach mit Kirchenmitgliedern über ihre Sorgen und erfuhr gleichzeitig viel über die Stimmung im Land. Aber ich führte auch Gespräche mit Vertretern des DDR-Staatsapparates, in denen ich mich für schulisch benachteiligte Kinder christlichen Glaubens, für politisch Inhaftierte oder Ausreisewillige einsetzte. Dazu kam die alltägliche Büroarbeit innerhalb der Kirchenverwaltung.
Aus Sicht meiner Frau bestanden meine Sonntage damals üblicherweise darin, früh loszufahren und spät abends zurückzukommen. Manchmal gab es aber Sonntage, an denen ich zu Hause in Potsdam war und sogar überlegt habe, ob ich in die Kirche gehen oder lieber richtig „blau machen“ solle. …
Zu meinem Engagement in Brandenburg brachte mich mein Parteikollege Steffen Reiche. Er fragte mich, ob ich nicht Spitzenkandidat der SPD bei der Wahl zum Brandenburger Landtag werden wolle. Johannes Rau drängte mich wegen meiner Bekanntheit im Land ebenso dazu. Nur meine Frau war immer dagegen. Bei der Landtagswahl am 14. Oktober 1990 wurde die SPD stärkste Partei und ich infolgedessen Ministerpräsident des Landes.
Für mich kam von Anfang an nur Brandenburg als regionale Wirkungsstätte in Frage, wenn ich auch zunächst das ganze Territorium der DDR als ein neues Land bevorzugt hätte. Doch das war nicht gegen die Länder der alten Bundesrepublik zu machen. Außerdem wollten auch die Sachsen und Thüringer ihre alten Länder auferstehen lassen.
Meine politischen Vorstellungen waren zunächst ganz schlicht, weil ich als Vertreter des Volkes agieren wollte. Ich wollte den Menschen helfen, damit möglichst keiner auf dem Weg in das gemeinsame Deutschland zum Verlierer würde. Ich wollte vermeiden, dass sie plötzlich Fremde im eigenen Land wären. Gerade für Brandenburg, dessen Historie zu DDR-Zeiten völlig tabuisiert war, wollte ich ein neues Heimatgefühl schaffen. …
Als ich meine politische Tätigkeit begann, machte ich mir keine Gedanken darüber, wie lange ich diese Aufgabe ausüben könnte. Ich bin in meinem Leben immer „auf Sicht“ gefahren. Was hinter der nächsten Ecke kommt, hat mich nicht bewegt. Die Entscheidung für Brandenburg empfinde ich nach wie vor als richtig, denn ich fühlte mich damals auch in der Pflicht, diese Aufgabe zu übernehmen.
Ich schäme mich auch nicht dafür, dass manches nicht optimal gelaufen ist. Meine wichtigste Erfahrung ist, dass es sich lohnt, etwas gemeinsam mit Menschen anzupacken. So haben wir es auch geschafft, dass die Süd-Lausitzer und West-Prignitzer zu Brandenburg zurückkamen.
Zwei Erfahrungen, die ich nicht gerne gemacht habe, betreffen die Diskussion um meine Arbeit als Konsistorialpräsident. Ich musste lernen, dass der Journalismus immer auch von der Suche nach Skandalgeschichten beherrscht ist. Gerade die „Stasi“, mit der ich qua Amt zu tun hatte, verkauft sich in diesem Zusammenhang immer wieder gut. Genauso hat mich aber die Beobachtung berührt, dass Leute über Sachen sprechen und urteilen, über die sie gar nicht Bescheid wissen.
Es bereitet mir bis heute Mühe, verständlich zu machen, dass es das Selbstverständnis der Evangelischen Kirche in der DDR war, sich um Leute zu kümmern, die Hilfe suchten. Die Kirche wollte sich nicht aufs Singen und Beten zurückziehen. Wenn ich nun als Verhandlungsbeauftragter Ergebnisse erreichen wollte, musste ich mit allen verantwortlichen Leuten reden, mit dem Staatsapparat, der SED und der Staatssicherheit. Dabei war das Politbüro das eigentliche Machtzentrum der DDR. Moralische Rückendeckung erhielt ich bei dieser Aufgabe von meinen Kollegen aus der Kirche.
Ich habe seit der Wende viele neue Leute kennen und schätzen gelernt. Darunter waren auch solche, zu denen ich Vertrauen hatte und mit denen ich offen sprechen konnte, die aber auch mir vertrauten. Für mich ist das Freundschaft, und insofern habe ich viele neue Freundschaften mit Menschen aus Ost und West geschlossen.
Ich spreche bei Veranstaltungen, in Interviews oder mit Bekannten viel über die Zeit der Wende und danach, weil ich das für notwendig halte. Sonst erhalten die Personen die Deutungshoheit, die nicht nur nicht dabei waren und nicht Bescheid wissen, sondern sich auch noch profilieren wollen. Die Wende von 1989 ist und bleibt ein wichtiges Erbe für uns Ostdeutsche. Die deutsche Einheit hätte es nicht gegeben, wenn die Menschen in der DDR keine Veränderungen durchgesetzt hätten.
Ohne die Entschlossenheit, Beharrlichkeit, Leistungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit hätten wir nichts Neues auf die Beine gestellt. Wir müssen daher aufpassen, dass an den Schulen im Unterricht über DDR-Geschichte jetzt nicht nur Gespenstermalerei passiert, sondern dass wir auch den Neuanfang hervorheben. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass die DDR pauschal verteufelt wird. Sonst entsteht bei allen Ostdeutschen der Eindruck, sie müssten sich rechtfertigen, warum sie sich als Mitträger des Systems betätigt haben. Dabei war doch die überwiegende Mehrheit gar nicht im Machtapparat tätig, sondern hat in der DDR einfach nur gelebt und gearbeitet.
Meines Erachtens ist immer noch ein Aufbruch im Land zu spüren. Bei den jungen Leuten kommt mehr und mehr die Überzeugung auf, dass man Chancen nutzen muss. Die Entschlossenheit zu improvisieren, dazubleiben und Selbstbewusstsein zu haben, brauchen wir in Ostdeutschland unbedingt. Dann ist Brandenburg in 20 Jahren ein Land, das auf eigenen Beinen stehen kann und keine Hilfe mehr von anderen benötigt.
Auszug aus dem Buch „Neuanfang in Brandenburg“ – erhältlich in der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung