In zwei Systemen an der Spitze – Manfred Stolpe wird 75 Jahre alt
von Propst Dr. Karl-Heinrich Lütcke, Berlin
Nicht wenige Kirchenleute aus dem östlichen Teil Deutschlands sind nach der friedlichen Revolution von 1989 zeitweise oder auf Dauer in der Politik tätig gewesen. Sie brachten aus der synodal verfassten Kirche Erfahrungen mit demokratischen
Verfahren mit, und ihnen wurde Vertrauen entgegen gebracht. Der Weg von Manfred Stolpe, der am 16. Mai 75 Jahre alt wird, ist auch in diesem Zusammenhang ein besonderer Werdegang: In der Kirche auf DDR-Gebiet Jurist und Konsistorialpräsident, im neuen Gesamtdeutschland Ministerpräsident und Bundesminister. In zwei Systemen also in Spitzenämtern.
Der Name Manfred Stolpe war mir schon bekannt, als ich in den 1970er Jahren Pfarrer in Württemberg war: Als Sekretär des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR spielte er eine wichtige Rolle in der Kirchenpolitik. In Stettin war er 1936 geboren worden. Nach dem Krieg lebte die Familie in Greifswald. Nach dem Jura-Studium in Jena und einem Referendariat in der
Kirche war er, der in Pommern (Stettin und nach 1945 Greifswald) Aufgewachsene, in den Dienst der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gekommen. Von 1969 bis 1981 übernahm er die Leitung der Geschäftsstelle des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR.
Als ich nach Berlin kam und Abteilungsleiter im West-Berliner Konsistorium wurde, lernte ich ihn auch persönlich kennen. Unsere Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg war damals durch die Mauer und die Grenze geteilt, so dass sich auch getrennte Organe für Westregion und Ostregion gebildet hatten, auch wenn wir uns nach wie vor als eine Kirche betrachteten. 1982 war Manfred Stolpe Präsident des Konsistoriums in der Ostregion geworden.
Präziser Organisator
Ich erlebte ihn zunächst bei kleinen Treffen und Exkursionen, zu denen sich die Leitungskollegien der beiden Konsistorien in West und Ost trafen. Manfred Stolpe hatte sie immer mit großer Sorgfalt und Präzision organisiert, und es fiel auf, wie er bei unseren Besuchen in Gemeinden Brandenburgs unkompliziert und ohne Amts-Gehabe auf die Menschen zuging, bei denen er offensichtlich großes Vertrauen genoss. Einmal saß ich neben ihm im Bus, der uns zu einem Besuch Richtung Frankfurt/Oder
brachte, und ich erinnere mich noch sehr gut an das Gespräch: Wenige Tage zuvor war das Politbüro der SED neu zusammen gesetzt worden. Ich hatte davon schon in der Zeitung gelesen, erfuhr aber durch Stolpe zusätzlich eine Einschätzung der Personen: Den einen beschrieb er als Hardliner, von dem nicht viel Gutes zu erwarten wäre, den andern als Hoffnungsträger
für positive Veränderungen. Als die friedliche Revolution in der DDR zum Fall der Mauer und bald darauf zur Wiedervereinigung führte, konnten die beiden durch die Mauer getrennten Teile unserer Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg wieder zusammen kommen. Ich gehörte als Propst zu dem kleinen Kreis von Menschen, die die Vereinigung der kirchlichen Verwaltung und der Kirchenleitung vorbereiteten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Manfred Stolpe noch intensiver kennen. Er begegnete seinen Gästen freundlich und unkompliziert und kam sehr gut vorbereitet in die Sitzungen. Er setzte sich dafür ein, dass „sein“ Ost-Kollegium beim Zusammenwachsen mit dem West-Kollegium nicht an den Rand gedrängt wurde (wie es damals leider bei so vielen Ost-West-Fusionen der Fall gewesen ist).
Zugleich lernte ich Stolpes Arbeitsstil kennen. Er war ein Frühaufsteher, der auch abends noch lange in seinem Büro arbeitete, und er ließ Sachen und Probleme nicht lange liegen, sondern bemühte sich um rasche Erledigung. Bekannt war er auch dafür, dass er sich persönlich um die Mitarbeiter im Konsistorium kümmerte und sie regelmäßig in ihren Büros aufsuchte.
Ruf aus der Politik
Aber sehr bald kam der Ruf aus der Politik: Komm herüber (von der Kirche zur Politik), und hilf uns. Schon im November 1989 erreichte ihn die Anfrage, ob er bereit sei, als Minister in der neu zu bildenden Regierung der (Noch-) DDR mitzuwirken. Er beriet sich innerhalb der Kirche und lehnte dann in einem Telefonat mit dem späteren Ministerpräsidenten Lothar de Maizière
ab: Denn er wurde in der Kirche noch gebraucht. Aber als dann im Jahre 1990 mit der Wiedervereinigung auch in Brandenburg die Bildung einer Regierung anstand, folgte er dem Werben der SPD. Er wurde am 14. Oktober 1990 in den Brandenburgischen Landtag und danach zum ersten Ministerpräsidenten des wieder neu gegründeten Landes Brandenburg gewählt. In der
ersten Legislaturperiode regierte er in einer Ampel-Koalition mit FDP und Grünen. Belastet waren diese Jahre durch die lange
dauernde Diskussion um seine Kontakte zur Staatssicherheit in der DDR-Zeit. Er hatte zwar nie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, aber die Stasi hatte ihn als „IM Sekretär“ geführt.
Schon ehe die Akten geöffnet wurden, hatte er von sich aus die Öffentlichkeit informiert und mitgeteilt, dass er im Rahmen seiner vielen Gespräche mit staatlichen Stellen auch mit Mitarbeitern der Staatssicherheit gesprochen hatte. Es folgte eine heftige öffentliche Diskussion, auch in der Kirche. Ein kirchlicher Untersuchungsausschuss kam zu dem Ergebnis, das Ausmaß der Gespräche zu kritisieren, aber keine disziplinarischen Maßnahmen zu erwägen, weil er überzeugt war, dass Manfred
Stolpe diese Gespräche „als Vertreter der Kirche geführt“ und „nicht die Seiten gewechselt“ hatte.
Spielraum in DDR erweitert
Schon seit seiner Zeit als Leiter der Geschäftsstelle des Bundes Evangelischer Kirchen der DDR hatte er einen umfassenden Verhandlungsauftrag der Kirchenleitung für Gespräche mit staatlichen Stellen. Ziel dieser Gespräche war oft die Hilfe für Menschen in konkreten Notlagen, aber ebenso die Erhaltung und Erweiterung kirchlicher Handlungsspielräume. Zu den kirchlichen Interessen, über die zu verhandeln war, gehörte beispielsweise die Genehmigung von Baumaßnahmen, die Seelsorge in Krankenhäusern und Strafanstalten und die Ermöglichung von Jugendfreizeiten und anderen kirchliche Veranstaltungen, weil die Veranstaltungsverordnung der DDR die Kirche auf religiöse Veranstaltungen im engeren Sinn zu beschränken versuchte.
In den humanitären Angelegenheiten ging es um Haftentlassungen, Regelungen für Wehrdienstverweigerer, um Verhinderung von Zwangsadoptionen, um Ausreise in besonders bedrängten Fällen, um Krankenbehandelung und vieles andere. In der Tat gibt es eine Vielzahl von Menschen, die Manfred Stolpe dankbar sind, weil er ihnen helfen konnte, und auch die Bischöfe,
die in jenen Jahren Verantwortung trugen, haben ihm große Verdienste zugesprochen und ihr nach wie vor großes Vertrauen zum Ausdruck gebracht.
Kraft der Hoffnung
In einer Erklärung der Bischöfe Demke, Hempel, Krusche, Leicht und Schönherr vom April 1992 heißt es: „Wir haben Manfred Stolpe…die Verhandlung aller sensiblen und schwierigen Fragen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche anvertraut, ohne ihm vorzuschreiben, welche einzelnen Schritte zu unternehmen sind. Dies war Ausdruck unseres Vertrauens, das auch darin seinen
Grund hatte, dass Manfred Stolpe nie bereit war, sich mit den tatsächlichen Gegebenheiten in der DDR abzufinden. Er hat immer wieder der Resignation unter uns widersprochen, war stets bereit, zu denken und in Angriff zu nehmen, was unmöglich schien. Das lag nicht nur in seinem persönlichen Naturell, sondern wurde auch eine Frage an die geistliche Kraft unserer Hoffnung.“
Diejenigen, die in der DDR besonders stark den Zersetzungsmaßnahmen durch die Staatssicherheit ausgesetzt waren, haben Stolpes Handeln kritischer gesehen und darauf verwiesen, dass es in der Kirche eine generelle Haltung gab, keinen Kontakt zur Staatssicherheit zu pflegen. Und auch in den Leitungen der evangelischen Kirche ist nach 1992 Kritik geäußert worden, weil er
nicht ausdrücklich seiner Kirchenleitung offen gelegt hat, dass zu seinen Kontakten mit staatlichen Stellen auch regelmäßige Kontakte zur Staatssicherheit gehörten. Aber in einer Erklärung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg vom 22.10.1992, die sich mit den Kontakten der Kirche zum Herrschaftsapparat der DDR befasst, heißt es auch: „Alle jetzt nach Bekanntwerden vieler Einzelheiten geäußerte Kritik an der Verhandlungsführung Manfred Stolpes stellt für uns die Grundüberzeugung nicht in Frage: Manfred Stolpe war ein Mann der Kirche, nicht des MfS (Ministeriums für Staatssicherheit). Er hat sich bei der Erledigung seines Auftrages ins Zwielicht begeben, vielleicht auch Fehler gemacht. Aber im Rahmen des in diesem System Möglichen hat er für die Kirche, für die Menschen in der DDR und für den Zusammenhalt der Deutschen viel erreicht.“
Beliebter Landesvater
Die Rolle des Landesvaters war Manfred Stolpe auf den Leib geschnitten. Ich habe es selber erlebt, wie er 1998 (ohne vorherige Ankündigung und ohne Presse) bei der großen Oderflut am Sonntagmorgen einen Gottesdienst in einem der von der Flut bedrohten Orte besuchte und anschließend mit den anderen Gottesdienst-Teilnehmern ins Gespräch kam. Er kannte das Land Brandenburg mit seinen verschiedenen Regionen ja schon aus der Zeit als Konsistorialpräsident gut; und er kannte aus dieser Zeit auch sehr viele Menschen. Seine Fähigkeit, ganz unkompliziert auf Menschen zuzugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, machte ihn beliebt.
So war es kein Wunder, dass seine Partei, die SPD, bei der zweiten Landtagswahl im Jahr 1994 die absolute Mehrheit erhielt. Diese absolute Mehrheit verlor er dann 1999. Fortan regierte er zusammen mit der CDU in einer Großen Koalition.
Seine Beliebtheit im Lande blieb ihm erhalten, auch wenn seine Regierung mit dem Scheitern einiger Großprojekte Misserfolge
erlebte. Im Jahre 2002 übergab er das Amt des Ministerpräsidenten an Matthias Platzek. Da war er schon 66 Jahre alt und hatte gedacht, dass er sich nun in den verdienten Ruhestand zurückziehen könnte, um sich verschiedenen ehrenamtlichen Projekten zu widmen.
Den neuen Ländern verpflichtet
Aber schnell erreichte ihn wieder ein Ruf: Bundeskanzler Schröder wollte das Amt eines Beauftragten für die neuen Bundesländer aufwerten und es einem Minister übertragen. So bat er Manfred Stolpe, dieses Amt als Minister in Verbindung
mit dem Ministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen zu übernehmen. Der pflichtbewusste Preuße Manfred Stolpe begab
sich erneut in die Politik und musste sich dabei unter anderem mit den Problemen der Einführung der LKW-Maut herumschlagen. In seine Amtszeit fällt auch die Erarbeitung eines bundesdeutschen Verkehrswegeplans, in dem der Ausbau
der Ost-West-Verbindungen in die osteuropäischen Länder geplant war, ganz gewiss ein besonderes Anliegen für den ehemaligen Brandenburger Ministerpräsidenten.
Als Stolpe dann 2005 aus dem Ministeramt ausschied, hatte er bereits eine Krebs-Operation hinter sich. Auch da war es wohl Ausdruck für sein starkes Arbeitsethos und für seine Eigenart, die eigene Person nicht in den Vordergrund zu stellen, dass er von seiner Erkrankung zunächst gar nichts in die Öffentlichkeit dringen ließ. Erst im Jahre 2008, als er erneut operiert werden
musste und auch seine Frau, die Ärztin Ingrid Stolpe, an Krebs erkrankte, haben die beiden öffentlich darüber gesprochen und zwei Ratschläge für andere gegeben. Der erste ist nahe liegend: Rechtzeitig zur Vorsorge zu gehen. Der zweite klingt in meinen Ohren typisch für Manfred Stolpe. Er sagt: Man darf sich von solchen Situationen nicht verrückt machen lassen. Ja, so kann man Manfred Stolpe immer wieder erleben: Nicht viel Aufhebens von sich, ruhig, gelassen und zugewandt. Wenn er jetzt seinen 75. Geburtstag feiern kann, ist ihm zu wünschen, dass ihm diese Haltung, die mit seinem christlichen Glauben eng zusammenhängt, weiterhin geschenkt bleibt.
Quelle: Evangelisches Seniorenwerk Informationsbrief Nr. 68/2-2011