Mit der Stasi verhandelt

In Brandenburg ist kürzlich ein Gutachten für die Enquete-Kommission veröffentlicht worden:  „Personelle Kontinuität und Elitenwandel in Landtag, Landesregierung und -verwaltung im Land Brandenburg“. Zu welchem Ergebnis kommen die Gutachter?

Das Gutachten zeichnet detailliert und sorgfältig die verschiedenen Ansätze zur Überprüfung der Mitglieder des Landtages Brandenburg auf ihre Zugehörigkeit zur ehemaligen Führungselite und vor allem zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nach. Ebenso der Beschäftigten in den einzelnen Ministerien und der Verwaltung des Landes Brandenburg. Insgesamt sei das Land Brandenburg nach 1990 zu nachsichtig mit diesem Problemfeld umgegangen. Daran hätten auch die kirchlichen Beauftragten, Generalsuperintendent Günther Bransch und Monsignore Karl-Heinz Ducke, die als erste mit der Überprüfung befasst waren, ihren Anteil.

Inwiefern waren die kirchlichen Beauftragten zu nachsichtig?

Beide sahen bei einer mittleren Belastung nicht die Notwendigkeit, von einer weiteren politischen Tätigkeit abzuraten. Eine Registrierung als IM allein galt nicht als Ausschlusskriterium. Ich finde das angemessen.

Hat man sich zu wenig um die ehemals Benachteiligten gekümmert?

Der Versuch der Politik, den Benachteiligten einiges von dem zu ermöglichen oder zu ersetzen, was sie entbehren mussten, war und ist nachdrücklich gefordert. Aber auch das ist eine wichtige Erkenntnis: Einen vollen Ausgleich wird es nie geben. Die Vergangenheit lässt sich nicht zurückholen.

Wie beurteilen Sie den Umgang mit Belasteten?

Bei einer revolutionären Neugestaltung gibt es zwei Ansätze. Die Belasteten mitnehmen oder ausgrenzen. Ich neige zum ersten Ansatz. Er erkennt der ehrliche Bemühen an, sich neu einzubringen.

Das Gutachten wirft auch in der Kirche noch einmal die Frage nach kirchlichen Kontakten zur Staatsmacht auf. Warum haben Kirchenvertreter Gespräche mit der Stasi nicht rundum abgelehnt?

Es gab unter Kirchenmitarbeitern die allen bekannte Regel: Das MfS ist nicht der selbstverständliche Gesprächspartner. Das MfS ist keine Wohltätigkeitsstelle, sondern Teil des Bemühens, kirchliche und oppositionelle Aktivitäten einzuschränken. Wer also zu Staatsfunktionären geht, erst recht, wer mit dem MfS sprechen will oder muss, meldet das zuvor – auf jeden Fall danach – seinem Vorgesetzten. Die Gesprächsinhalte reichten von ganz persönlichen Interessen bis hin zu gesamtkirchlichen Problemfeldern. Bei diesen ging es etwa darum, Veranstaltungen unter dem Dach der Kirche gegen staatliche Kritik zu verteidigen, Repressalien gegen Einzelne abzuwenden, Inhaftierte freizubekommen oder für begabte Schüler aus parteifernen Familien den Zugang zur Abiturstufe zu erwirken.
Viele hielten sich daran, nicht mit dem MfS zu sprechen. Manche redeten – und das halte ich für akzeptabel – in Abstimmung mit dem Vorgesetzten. Zur großen Überraschung nach 1989 redeten jedoch viele ohne Kenntnis anderer.

Die kirchliche Untersuchungskommission empfahl in elf Fällen ein Disziplinarverfahren wegen Verbindungen zum MfS. Wurde in manchen Fällen die Grenze des Vertretbaren überschritten?

Ja.

Auch Manfred Stolpe wird der Kritik unterzogen …
Die Gutachter folgen dem Bescheid der BStU von 1992. Darin heißt es sinngemäß, dass die aufgefundenen Unterlagen zum Einsatz des IM ‚Sekretär‘ den Schluss zulassen, dass er nach den Maßstäben des MfS über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren ein wichtiger IM im Bereich der Evangelischen Kirchen der DDR war. Abschließend hielten sie fest, dass der innere Vorbehalt Stolpes, eigentlich im Dienste der Kirche gearbeitet zu haben, nach dem Landtagsüberprüfungsbeschluss und auch nach den Kriterien des Überprüfungsverfahrens unbeachtlich sei.

Wie sah und sieht es die Kirchenleitung?

1992 erklärte sie: Alle nach Bekanntwerden vieler Einzelheiten geäußerte Kritik an der Verhandlungsführung Manfred Stolpes hätte die Grundüberzeugung nicht in Frage gestellt, dass Manfred Stolpe ein Mann der Kirche war, nicht des MfS. Er habe sich bei der Erledigung seines Auftrages ins Zwielicht begeben, vielleicht auch Fehler gemacht. Aber im Rahmen des in diesem System Möglichen habe er für die Kirche, für die Menschen in der DDR und für den Zusammenhalt der Deutschen viel erreicht. Diese Sicht bekräftigte die Kirchenleitung 1995 erneut. Ein Disziplinarverfahren gegen Manfred Stolpe sah sie nicht als gerechtfertigt an.

Manfred Stolpe wird von den Bürgerrechtlern zur Last gelegt, dass er über deren Kopf hinweg mit staatlichen Stellen und besonders auch mit dem MfS Gespräche führte, mit der Absicht deren Aktionsradius einzuschränken. Er habe zum Beispiel mitgeholfen, Bärbel Bohley und Werner Fischer aus dem Gefängnis nach England abzuschieben.
Manfred Stolpe handelte in diesem Fall nicht als Einzelkämpfer. In den Krisentagen Januar 1988 wurde in der Kirchenleitung ständig über die Entwicklung berichtet. Sie unterstrich auch die Forderung, beide – wie zugesagt – nach einem halben Jahr wieder in die DDR einreisen zu lassen. So geschah es dann auch.

Wurde in der Kirchenleitung häufig über Gruppen gesprochen?

So häufig, dass manche anmahnten, die Anliegen der Gemeinden nicht zu vergessen. Manfred Stolpe war es, der dafür eintrat, die Gruppen keinesfalls zu deckeln. Deren Hinweis auf Defizite in der DDR hielt er für hilfreich, um gleiche Anliegen der Kirche zur Geltung zu bringen. Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, dass Stolpe die Umsetzung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki 1975 energisch einforderte. Dabei ging es ihm um die Menschenrechte im alltäglichen Vollzug.

Wieso wird dann der Kirchenleitung und Manfred Stolpe von Bürgerrechtlern immer wieder vorgeworfen, sie habe die Gruppen in ihrem Elan behindert?

Es war ein Anliegen der Kirchenleitung, darauf zu achten, den Bogen nicht zu überspannen. Gruppen drängen auch in spannungsreichen Zeiten auf schnelle Lösungen. Leitende Gremien neigen hier zu diplomatischerem Vorgehen, um friedliche Lösungen nicht zu gefährden. Den Vorwurf, die Kirchenleitung sei zu zögerlich gewesen, muss sie ertragen. Sie darf allerdings auch auf die Fürsorgepflicht verweisen. Mögliche Inhaftierungen betrafen ja nicht leitende Kirchenleute, sondern weniger geschützte Jugendliche.

Ist die Kirchenleitung in ihrem Bemühen, Oppositionelle zu schützen, Kompromisse eingegangen, die zu weit gingen, wie die Absage von regimekritischen Veranstaltungen?

Das werten Kirchenleitung und Gruppen verschieden. Es gab immer ein zähes Ringen um den Inhalt dieser Veranstaltungen. Nach Sicht der Kirchenleitung wurden Absprachen nicht immer eingehalten, umgekehrt sahen sich die Initiatoren zu sehr gegängelt. Im Blick auf den 1987 geplanten Kirchentag in Berlin hielt es zum Beispiel die Kirchenleitung nicht für geeignet, auch eine Blues-Messe oder Friedenswerkstatt mit zu verantworten. Das hat zu erheblicher Spannung geführt.

Muss bei dem Rückblick auf die Vergangenheit nicht auch der Blick über 1990 hinausgehen?

Ich halte diesen Aspekt bei einem Rückblick im Jahr 2011 für zwingend. Es könnte doch sein, dass selbst tatsächlich Belastete sich derartig überzeugend eingebracht haben, dass sie sich um das Land Brandenburg nach 1990 verdient gemacht haben. Auch das wäre beispielsweise in die Bewertung von Ministerpräsident Manfred Stolpe einzubeziehen. Oder nehmen Sie Professor Michael Schumann (PDS-Linke Liste). Die Gutachter urteilen, es entlastene ihn, dass er nur relativ kurz und rund 20 Jahre vor der erfolgten Überprüfung für das MfS tätig war. Das hätte allerdings nach den Vorgaben des Überprüfungsbeschlusses an sich „nicht durchgreifen dürfen“.
Ich habe während der Landtagssitzungen vielfach beobachtet, wie sachbezogen Professor Schumann Stellung bezog, wie parteiübergreifend er Gehör fand. Muss das nicht auch bewertet werden? Der Blick zurück ist wichtig, aber umfasst nicht alle Aspekte, ja kann im Blick auf die Zukunft auch kontraproduktiv sein.

Ulrich Schröter initiierte und führte monatlich Täter-Opfer-Gespräche von 1990 bis 1999 in der Erlösergemeinde in Berlin-Lichtenberg.

Quelle: Die Kirche