Sand im Getriebe des Staates?

14. Januar 2010, Zürich – Vortrag : Die Kirchen in Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall

Thesen

1. Kirche und Christen in der DDR waren für den SED-Staat in doppelter Hinsicht Feinde. Nämlich im Kampf der Weltanschauungen und als „5. Kolonne des westlich-imperialistischen Klassenfeindes“.

2. Zur Bekämpfung der Kirche setzte die SED vielfältige Maßnahmen ein wie z.B. die Kürzung der Staatsleistungen, die Abschaffung des staatlichen Kirchensteuereinzuges, die Verdrängung des Religionsunterrichtes aus den Schulen, die Einführung der Jugendweihe als Gegenritual zur Konfirmation, die Benachteiligung christlicher Kinder in den Schulen sowie die Ausgrenzung der Christen von wichtiger Verantwortung in Politik und Wirtschaft.

3. Infolge massiver staatlich organisierter Kirchenaustrittskampagnen und der Abwanderung von über 2 Millionen Menschen Richtung Westen verloren die Ev. Kirchen in der DDR von 1946 bis 1989 nahezu 2/3 ihrer Mitglieder und sanken von 90 Prozent auf knapp 30 Prozent der Bevölkerung.

4. In Anwendung der Barmer Theologischen Erklärung, die 1934 gegen den Nazi-Einfluss erarbeitet wurde, forderten die Ev. Kirchenleitungen und Synoden die Gemeinden und Christen auf, sich nicht ängstlich hinter Kirchenmauern zurückzuziehen, sondern im Vertrauen auf Gottes Zusage zur Zukunft der Kirche für eine menschenfreundliche und gerechte Gesellschaft einzutreten.

5. 1968 erschwerte eine neue DDR-Verfassung die Mitarbeit der Ev. Landeskirchen der DDR in der Ev. Kirche in Deutschland. Zugleich versuchte der Staat die Ev. Landeskirchen gegeneinander auszuspielen. Um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern, schlossen sich die Ev. Kirchen in der DDR zum Bund der Ev. Kirchen in der DDR zusammen. Dennoch wurde der Zusammenhalt der evangelischen Christen und Kirchen in Deutschland durch den Willen der Leitungen und Synoden sowie tausendfacher Gemeindekontakte gewährleistet. Diese Verbindung und die internationale ökumenische Partnerschaft waren für die Ev. Kirchen in Ostdeutschland ein wichtiger Rückhalt bei ihren Bedrängnissen durch den Staat.

6. Der Kirchenbund verstand sich als eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft der DDR und betonte seinen Auftrag „in dieser so geprägten Gesellschaft nicht neben ihr, nicht gegen sie“ (Kirche im Sozialismus). Der Staat sah seine Deutungshoheit zum Sozialismus in Frage gestellt und reagierte heftig auf kirchliche Erwartungen für einen verbesserlichen Sozialismus.

7. In ökumenischen Versammlungen evangelischer, katholischer und freikirchlicher Christen wurden Ende der achtziger Jahre konkrete Reformerwartungen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR erhoben.

8. Kirchenleitungen und Synoden vertraten die Reformforderungen gegenüber dem Staat bis Mitte 1989 verhandlungsorientiert und moderat. In manchen Kirchengemeinden und insbesondere in Gruppen unter dem Schutzdach der Kirche wurden die Veränderungsforderungen offensiver gestellt. Das ergab innerkirchliche Spannungen, war aber letztlich objektiv ein wichtiges Zusammenwirken.

9. Aus den Evangelischen Kirchen kam das Reformprogramm für eine bessere DDR. Die Nichtbeachtung dieser von der Mehrheit der Bevölkerung vertretenen Forderungen löste 1989 die friedliche Revolution in der DDR aus. Durch den Einfluss von Pfarrern und Kirchgemeinden konnten in über 200 Städten Ostdeutschlands Massendemonstrationen für Reisefreiheit, Demokratie, Meinungsfreiheit, freie Wahlen und eine effektivere Wirtschaft friedlich verlaufen. Die Staatsmacht hatte Provokationen und Gewalt erwartet, fand keinen Anlass zum Einschreiten und gab nach.

10. Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde der Sieg der friedlichen Revolution offenkundig. An von Kirchen moderierten Runden Tischen erfolgte die Überleitung von der Diktatur zur Demokratie und freien Wahlen am 18. März 1990, in denen sich die große Mehrheit der Bevölkerung für die deutsche Einheit aussprach.

11. Die wirtschaftliche und staatliche Wiedervereinigung Deutschlands führte zu einem totalen Umbruch der Verhältnisse in Ostdeutschland. Die ostdeutsche Wirtschaft war dem schnellen Übergang in den internationalen Wettbewerb nicht gewachsen. Wichtige Absatzmärkte gingen verloren. Massenarbeitslosigkeit war die Folge. Riesige Sozialleistungen für Ostdeutschland wurden nötig und sind bis heute der Großteil des West-Ost-Transfers in Deutschland.

12. Dank großer Solidarität aus der Bundesrepublik konnten erhebliche Verbesserungen der Infrastruktur in Ostdeutschland erreicht werden. Verkehrswege und Kommunikationsnetze haben einen hohen Stand erreicht. Im Städtebau und in der Entwicklung des ländlichen Raumes sowie der Umwelt wurden große Verbesserungen vorgenommen.
Wichtige Teile der Industrie konnten sich, allerdings nur unter erheblichem Personalabbau, auf dem Markt behaupten. 500.000 neue mittelständische Unternehmen entstanden.

13. Die Ev. Kirchen in Ostdeutschland sind nach der deutschen Einheit still geworden. In der DDR waren die Kirchen nach dem Willen des SED-Staates eine Randerscheinung. Gerade deshalb wurden sie als andere Stimme gehört und von westlichen Medien stark beachtet. Nun ist die Ev. Kirche nur eine Institution neben vielen anderen auf dem breiten Markt des Meinungspluralismus.

14. Öffentliche Vorwürfe wegen zu großer Staatsnähe in der DDR und Kontakten zum Staatssicherheitsdienst sowie ein verbreitetes Unterlegenheitsgefühl gegenüber den größeren und reichen Kirchen im Westen hemmten eigenständige Äußerungen der Ev. Kirchen in Ostdeutschland.

15. Fremd war den Ev. Kirchen in Ostdeutschland die in der BRD bestehende Verflechtung der Kirche mit dem Staat. Gegen staatlichen Kirchensteuereinzug und Religionsunterricht als staatliches Lehrfach an den Schulen wurden Bedenken erhoben. Militärseelsorge als unmittelbarer Bestandteil der Bundeswehr blieb umstritten. Stattdessen wurde für Ostdeutschland eine Regelung mit starker kirchlicher Verantwortung eingeführt.

16. Enttäuscht wurde die Erwartung, dass nach dem Wegfall der Kirchenbedrängung durch den SED-Staat eine Wiedereintrittsbewegung in die Kirche erfolgen würde. Stattdessen kam ein Austrittswelle. Denn aus Furcht vor zwangseingetriebenen Kirchensteuern traten Menschen formal aus der Kirche aus, die sie schon in der DDR verlassen hatten.

17. Im Alltag der neuen Verhältnisse nahmen die Ev. Kirchen, ihre Gemeinden und diakonischen Werke ihre Möglichkeiten wahr. Sie übernahmen von den oft überforderten Kommunen zahlreiche Kindertagesstätten sowie Krankenhäuser und gründeten viele kirchliche Schulen. Vielerorts wurden in Zusammenarbeit von Christen, Nichtchristen und westdeutschen Förderern Kirchen restauriert und für eine breite Nutzung erschlossen.

18. Im kulturellen Leben der Gesellschaft ist die Kirche aus einer Nischensituation zu einer wichtigen Kulturträgerin geworden und hat angesichts schwindender öffentlicher Ressourcen eine Verantwortung für die kulturelle Bildung und Infrastruktur.

19. Die Mitgliederzahlen der Ev. Kirchen in Ostdeutschland sind durch die zunehmende Überalterung der Bevölkerung rückläufig. Allerdings kommt die Bevölkerungsumschichtung in Ostdeutschland durch einerseits weitere Abwanderung in den Westen (mehr Nichtchristen) und andererseits Zuwanderung aus dem Westen (deutlich mehr Christen) den Kirchengemeinden zugute. In Wachstumsbereichen wie dem Berliner Umland wurden Kirchneubauten nötig.

20. Die Ev. Kirchen und Gemeinden in Ostdeutschland besinnen sich auf ihre Erfahrungen aus der Zeit der Diaspora und der Verfolgung in der DDR. Sie leben vom verbindlichen Christsein ihrer Gemeindeglieder. Die Gemeinden spüren, wie sie – umgeben von Nichtchristen – in einer unbehinderten missionarischen Existenz zum Beispiel über Kinder und Jugendliche wirken können. Die Ev. Kirche engagiert sich in kritischer Solidarität zu den Problemen der Gesellschaft wie Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen.

21. Die Ev. Kirchen in Ostdeutschland sind als ökumenisch orientierte beteiligungsoffene missionarische Gemeindekirche ein aktiver und anerkannter Teil der Gesellschaft mit wachsender Bedeutung.

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