Am 29. Dezember 2019 ist Manfred Stolpe gestorben. Er brachte die Menschen zusammen, er war ein Mann der klaren, aber ruhigen Töne, der für Ausgleich und Versöhnung stand. Aber es gibt einen Punkt, der bis heute für Kontroversen sorgt. Das war seine Rolle als Kirchenmann in der DDR. An seiner Person und an seiner Tätigkeit als Konsistorialpräsident in der Zeit der Teilung Deutschlands entzündete sich ab 1992 eine scharfe Debatte. Im Brandenburger Landtag wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt und 1994 zerbrach daran die damalige Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis90. Die Kirche war die einzige bedeutende Organisation in der DDR, die nicht zentral vom Staat gelenkt wurde. Um ihre unabhängige Arbeit in den Gemeinden zu ermöglichen, gleichzeitig unter dem Dach der Kirche Raum für nicht staatskonforme Ideen und Gesprächskreise zu schaffen und sich für politisch Verfolgte einzusetzen, führten Kirchenfunktionäre wie Manfred Stolpe mit allen Ebenen des Regimes Gespräche, also mit Staat, Partei und Staatssicherheit. In diesem Austausch wurden die Freiräume immer wieder neu ausgelotet. Das Wesen solcher Gespräche ist, dass sie beiden Seiten etwas bringen müssen. Ob an einigen Stellen dabei zu viel Vertrautheit entstand, ob zur Verhinderung einer Totalkonfrontation mit dem Staat da und dort zu viele Kompromisse gemacht wurden, das lässt sich heute schwer beurteilen. Manfred Stolpe selbst hat solche Drahtseilakte in seinem Buch Schwieriger Aufbruch an Beispielen konkret beschrieben.
Für den Einsturz des DDR-System gibt es drei Gründe: Michail Gorbatschows Distanz zur bornierten Reformverweigerung des DDR-Regimes, die Massenflucht aus der DDR und die immer stärker werdende Oppositionsbewegung. Und ohne die Spielräume, die die Kirchen geschaffen hatten, hätten die Oppositionsgruppen nicht so wirksam und stark werden können. Die Schlüsselfigur für dieses Vorgehen auf kirchlicher Seite war Manfred Stolpe. Oder wie Bischof Martin Kruse es formulierte: Stolpe war immer dabei.
Heute kennt man Manfred Stolpe wie selbstverständlich als Politiker der SPD. Doch 1990 war zunächst keineswegs klar, dass der Weg dieses unabhängigen Kopfes in die Sozialdemokratie führen würde. Anfang Juli 1990 allerdings, kurz nach der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, schickte Stolpe eine Postkarte an die SPD-Geschäftsstelle in Potsdam. Auf der Vorderseite war eine Karikatur über die Gefahr von sozialen Verwerfungen als Folge der schnellen Einführung der D‑Mark zu sehen. Auf der Rückseite erklärte Stolpe seinen Eintritt in die SPD. Es waren also soziale Fragen, Fragen nach der sozialen Bewältigung des tiefen Umbruchs, die ihn zur Sozialdemokratie führten. Zum Landesvorsitzenden der SPD Brandenburg war im Mai 1990 auf dem Landesparteitag in Kleinmachnow Steffen Reiche gewählt worden. Er setzte sich gegen fünf Kandidaten durch. Ein Grund für Reiches Wahl war seine Ankündigung, selbst nicht für das Amt des Ministerpräsidenten zur Verfügung zu stehen. Reiche und sein Stellvertreter Siegfried von Rabenau besuchten Stolpe zu Hause und trugen ihm die Kandidatur an. Ihr Vorgehen war in der SPD nicht unumstritten, da einige eigene Ambitionen hatten und andere schwierige Diskussionen über Stolpes Rolle als Kirchenmann in der DDR voraussahen. Am 21. Juli jedoch stimmte eine große Mehrheit der Brandenburger SPD-Spitze für Stolpe und auf dem Landesparteitag in Cottbus Anfang September entschieden sich 127 von 129 Delegierten für ihn.
Auch für die SPD in Deutschland insgesamt war Manfred Stolpe ein Glücksfall. Bei den Wahlen in den Bundesvorstand erhielten er und Regine Hildebrandt immer die besten Stimmergebnisse. Sehr zugute kamen Stolpe die freundschaftlichen Beziehungen, die er schon vor dem Mauerfall zu vielen sozialdemokratischen Politikern im Westen aufgebaut hatte. Auch aufgrund der DDR-Vorgeschichte unterstützten Helmut Schmidt, Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und viele andere namhafte Sozialdemokraten Manfred Stolpe 1990 im Wahlkampf mit Rat und Tat. Stolpe organisierte Koordinierungsrunden der ostdeutschen SPD-Landesverbände, ab 1996 war er für viele Jahre Vorsitzender des Forums Ostdeutschland.
Manfred Stolpe war ein Menschenfänger und damit der geborene Wahlkämpfer. Er ging auf die Leute zu, sprach sie auf ihre Alltagssorgen an, erklärte sein Anliegen mit einfachen Sätzen, sagte in dem einen oder anderen Fall Abhilfe zu. Die Menschen fühlten sich von Stolpe ernst genommen, seine Aussagen und Versprechen wirkten glaubwürdig. In seinem Fokus standen immer die »kleinen Leute«. Die SPD gewann die Landtagswahl am 14. Oktober 1990 mit 38,3 %. Seinen Wahlkreis, den er immer überzeugend gewann, hatte Stolpe sehr gut überlegt in Cottbus genommen. Damit zeigte er den Lausitzern, dass ihre Interessen für ihn ganz oben auf der Agenda standen.
Verbindlichkeit war für Manfred Stolpe eine entscheidende Tugend, vor allem bei wichtigen strategischen Entscheidungen. Dazu passte die Beharrlichkeit, mit der er seine Ziele verfolgte. Zum »System Stolpe« gehörte es auch, Anliegen ungeachtet aller Hierarchien bei einzelnen Mitarbeitern zu hinterlassen. Hierbei bestand seine Methode darin, Zettel mit Aufgaben zu beschriften und an Zuständige weiterzugeben. Für die Umsetzung gab es zumeist kein Kontrollsystem, aber Stolpe konnte sich sicher sein, dass die Empfänger das Aufgeschriebene ernst nahmen. Manchmal allerdings wurde man aus ihm auch nicht richtig schlau, etwa wenn er unbestimmt zu »Vorsicht« oder »Wachsamkeit« riet, womöglich weil er in einer Sache selbst noch nicht recht entschieden war.
Die Anforderungen der 90er Jahre an die Politik in Ostdeutschland sind heute kaum mehr vorstellbar. Es war eine Phase des Aufbruchs und des Aufbaus, aber auch des Abbruchs. Betriebe brachen zusammen, nur noch einzelne Betriebsteile konnten aufrechterhalten werden. Privatisierungen standen an, hohe Arbeitslosigkeit war die Folge. In dieser Lage ging es darum, industrielle Kerne zu erhalten, Investoren zu gewinnen, Selbstständige und den Mittelstand zu fördern, Auffanggesellschaften zu gründen, aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Regierende Politiker mussten Verhandlungen mit der Treuhand und mit Investoren führen, sich Betriebsversammlungen stellen, mit Betriebsräten und Gewerkschaften reden.
Manfred Stolpe war an allen Fronten zugleich präsent und aktiv. Er besuchte Mahnfeuer und rief dazu auf, den Druck nicht zu verringern. Gleichzeitig versuchte er, bei den Gesprächen mit Investoren möglichst viel herauszuschlagen. Nicht alles gelang. Doch dieses beharrliche Kümmern um die Probleme der Menschen beim Umbruch war der wesentliche Baustein für die große Anerkennung, die Stolpe als Landesvater genoss. Stolpe verstand seine Brandenburger, er hatte ein gutes Gefühl für ihre Stimmungen. Bei den Landtagswahlen 1994 erreichten er und die Brandenburger SPD mit der absoluten Mehrheit von 54 % ein überragendes Wahlergebnis. Kein Wunder, dass Stolpe daher auch als Wahlkämpfer bei Bundestagswahlen gefragt war, nicht nur in Ostdeutschland. Das galt vor allem für Gerhard Schröders Kampagnen 1998 und 2002. Im Wahlkampfjahr 2002 gab es sogar eine eigene Manfred-Stolpe-Tour, für die er sich nach seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten Zeit nehmen konnte. Danach ließ er sich durch Gerhard Schröder als Bundesminister für Verkehr, Wohnen und Aufbau Ost in die Pflicht nehmen.
Zweimal in seiner Regierungszeit verließ Manfred Stolpe das politische Gespür. Da war zum einen die Volksabstimmung über die Länderfusion von Berlin und Brandenburg. Weil er den Metropolenraum zukunftsgerichtet gestalten und eine gleichgewichtige wirtschaftliche Entwicklung im gesamten Raum ermöglichen wollte, war Manfred Stolpe von der Idee der Länderfusion fest überzeugt. Aber 62,7 % der Brandenburger entschieden sich im Mai 1996 gegen das Projekt. Nur wenige Wochen danach musste Brandenburg die in Bezug auf Regionalentwicklung und Lärmbelastung falsche Standortentscheidung für den Großflughafen in Schönefeld statt in Sperenberg akzeptieren. Stolpes zweite Fehleinschätzung betraf die Entwicklung des Rechtsextremismus in Brandenburg. Er selbst räumte in einem Interview mit der Zeit im Jahr 2000 rückblickend ein: »Ich wollte es nicht wahrhaben«. Erst 1998 hatten Manfred Stolpe und die Landesregierung daher das Handlungskonzept »Tolerantes Brandenburg« beschlossen, das bis heute im Ländervergleich als vorbildlich gilt. Bis zuletzt hat sich Stolpe in der F.C.Flick-Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz engagiert.
In den 90er Jahren war der »Brandenburger Weg« ein geflügeltes Wort. Er steht für Zuhören und ernsthaften Disput, für Integration und Moderation, für Kooperation und Konsens sowie für die Ablehnung inszenierter Konflikte zwischen den Parteien. Dieser Weg begann mit der ersten Ampel-Koalition in Deutschland. Diese Koalition integrierte Bürgerrechtler der DDR genauso in die Regierungsarbeit wie überzeugte Marktwirtschaftler und erforderte daher besonders viel Kompromissbereitschaft. In dieser Konstellation konnte Manfred Stolpe seine Stärken ausspielen. Er galt als ein Regierungschef mit der Gabe, Prozesse und Konflikte geduldig zu moderieren. Brandenburg zeichnete aus, dass es mit ihm und Regine Hildebrandt unvergleichbare und hoch populäre Politiker besaß, die auch im Westen Anerkennung fanden. Ihr »Brandenburger Weg« der Zusammenarbeit galt aber nicht nur für die Regierungskoalition, sondern auch für die Zusammenarbeit mit der Opposition.
1990 lautete Stolpes Motto »Die DDR geht, Brandenburg kommt«. Manfred Stolpe wusste um die Bedeutung von Identität und Heimat für Selbstbewusstsein und Motivation. Deshalb tat er alles, um das von Gustav Büchsenschütz komponierte und gedichtete Lied »Steige hoch, du roter Adler« als »Brandenburghymne« unter die Menschen zu bringen. Dazu wurden Aufkleber verteilt und – wo immer es auch nur einigermaßen passte – das Lied angestimmt. Stolpe kannte sein Land in- und auswendig, seine Geschichte und seine Menschen. Wäre er nicht Jurist geworden, so wäre er gerne Historiker, sagte er. Zu vielen Orten in Brandenburg fielen ihm Geschichten und Anekdoten ein, er konnte von der Gründungsphase des Landes durch Otto I. und die Askanier genauso erzählen wie über die Geschichte der Altmark und der Neumark, und er bedauerte, dass ausgerechnet Havelberg aufgrund eines Beschlusses der Stadt 1990 nicht zu Brandenburg gekommen war.
Preußen mit seinen dunklen und hellen Seiten, dem Militarismus und der Unterdrückung, aber auch der Geschichte von Toleranz und Aufklärung, sah Stolpe als Teil der brandenburgischen Geschichte. Nicht unumstritten war die geschichtspolitische Aktion, die Gebeine von Friedrich II. und seinem Vater Friedrich Wilhelm l. aus Baden-Württemberg nach Potsdam zu bringen und, wie Friedrich II. testamentarisch verfügt hatte, oben auf den Terrassen des Schlosses Sanssouci beizusetzen. Doch ein wiedergegründetes Land wie Brandenburg müsse sich zu seiner Geschichte bekennen, meinte Stolpe. Auch den Wiederaufbau der Garnisonkirche unterstützte er, weil auch sie zur Geschichte und zum Stadtbild Potsdams gehöre, noch mehr aber, weil er den Abriss der Ruine durch die SED ungeachtet des großen Engagements der Bürger dagegen für einen unverzeihlichen Frevel hielt. Für die Gedenkfeiern aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück, an denen einige Tausend ehemalige Häftlinge teilnahmen, stellte das Land 1995 zehn Millionen Mark zur Verfügung. Zu einem SPD-Landesparteitag in Seelow erschien Manfred Stolpe mit dem Parteivorsitzenden Rudolf Scharping leicht verspätet, nachdem er ihm die Gedenkstätte Seelower Höhen gezeigt hatte. Für Stolpes Geschichtsbewusstsein steht ebenfalls sein großes Engagement für den Denkmalschutz. Und auch der bis heute infolge von Konflikten zwischen den jüdischen Gemeinden nicht gesicherte Bau einer Synagoge in Potsdam lag ihm sehr am Herzen.
Wir stehen alle auf seinen Schultern, so formuliert es Matthias Platzeck. Ja, ohne Manfred Stolpe wäre das Land Brandenburg in seiner heutigen Form nicht vorstellbar, und er bleibt in vielem ein Vorbild für gute und bürgernahe Politik.
Von Martin Gorholt
Veröffentlicht in Neue Gesellschaft | Frankfurter Hefte