Er hätte uns allen sicher wie immer Mut gemacht
Erinnerungen an Manfred Stolpe von Susanne Krause-Hinrichs, Geschäfsführerin F.C. Flick-Stiftung in Potsdam – Quelle: PNN
Ein Jahr ist vorüber und immer noch erwische ich mich dabei, wie ich auf meinem Handy nach einer Nachricht von ihm suche oder den Impuls spüre, ihm eine SMS zu schreiben. Manfred Stolpe starb letztes Jahr kurz nach Weihnachten nachdem ihm die letzte seiner Krankheiten auch noch sein markantestes Instrument, seine Stimme geraubt hatte. Diese Stimme hörte ich zum ersten Mal 1991 an einem sehr heißen Sommertag im Ratskeller im damaligen Landkreis Jüterbog. Sie hatte die Fülle und Kraft einer Orgel und verströmte väterliche Autorität und Zuversicht.
Auftritt des Landesvater
Seine Erscheinung passte perfekt dazu, die schon grau melierten Haare umrahmten ein leicht gebräuntes Gesicht mit blitzenden Augen, ein stahlblaues Hemd mit Krawatte und ein für die damalige Zeit ungewohnt gut sitzender Anzug komplettierten den Auftritt des Landesvaters. Alle Teilnehmer hatten wegen der ungewöhnlichen Hitze die Jacken ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt, nicht so Manfred Stolpe der stoisch die Würde des Amtes präsentierte. Der Landrat hatte in epischer Breite die Probleme der damaligen Zeit ausgebreitet, die in Jüterbog neben hohen Arbeitslosenzahlen auch mehrere Hektar verseuchter Militärflächen bedeuteten.
Der Ministerpräsident kommentierte kundig, fragte nach und glänzte mit Sonderwissen von Bodenwertzahlen über die Situation in den Betrieben bis hin zur Geschichte und dem Wappen der Stadt. Heraldik und Historie waren sein Steckenpferd, die aktuellen Zahlen hatte ich ihm aufgeschrieben.
Grundvertrauen und Mut
Ich platzte innerlich fast vor Stolz, als er dieselben vortrug und den Jüterboger Gastgebern das Gefühl vermittelte, er beschäftige sich Tag ein Tag aus ausschließlich mit ihren Problemen. Wenn er auch diese bei weitem nicht lösen konnte und auch Versprechungen nicht immer gehalten werden konnten, er vermittelte Grundvertrauen und Mut, die es den Brandenburgern ermöglichten, diese Zeiten mit Zuversicht durchzustehen. Sie dankten es ihm mit sensationellen Wahlerfolgen von denen die SPD in Brandenburg auch noch heute profitiert.
„Fortuna Audaces juvat“, den Tapferen hilft das Glück, war sein Lieblingsmotto, das er in allen der damals noch existierenden 35 anderen Städte und Landkreise glaubwürdig bei seinen Besuchen vermittelte. Nach zwei Jahren gemeinsamer Kreisreisen beendete ich meine Ausbildung und die enge berufliche Zusammenarbeit endete vorerst. Ich sah ihn nur noch sporadisch.
Rechtsextremismus als Problem erkannt
1996 vor dem Schloss Glienicke gestand er seine erste große politische Niederlage ein. Die Brandenburger waren ihm nicht gefolgt, seine Idee von einem gemeinsamen Bundesland mit Berlin war gescheitert. Im selben Jahr räumte er ein, dass in Brandenburg der Rechtsextremismus und damit zusammenhängende gewalttätige Übergriffe stark zugenommen hatten. Als einziger ostdeutscher Ministerpräsident gründete er mit dem „Toleranten Brandenburg“ eine auf breiter gesellschaftlicher Basis und mit staatlicher Unterstützung funktionierende Institution, die seitdem präventiv erfolgreiche Arbeit leistet.
Es war dann auch der präventive Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus, der uns 2013 wieder zusammenführte.
Mit seiner Unterstützung übernahm ich die Leitung der Flick Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Diese privatrechtliche Stiftung konzipiert und finanziert Präventionsprojekte und ist eine wertvolle Ergänzung zu den staatlichen Projekten. Als Stiftungsrat wurde er nun mein unmittelbarer Vorgesetzter. Er nahm diese Aufgabe sehr ernst, war doch der Stiftungszweck eines seiner wichtigsten Themen. Als „die große Schande“ bezeichnete er oft ungewohnt emotional die nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die Kriegszeiten hatte er sehr bewusst erlebt und die Bewahrung von Frieden und Demokratie bestimmte sein Handeln. Durch seine langjährigen Erfahrungen mit dem Westen wusste er auch wie wichtig Stiftungen sein können und wie zivilgesellschaftliches Engagement als Klebstoff in einer demokratischen Gemeinschaft funktioniert.
So trafen wir uns dann sieben Jahre lang fast jede Woche meist zu Kaffee und Kuchen entweder in der Stiftung oder im Café der Johanniter Residenz. Ich esse eigentlich keinen Kuchen, weil er mir nicht schmeckt, Manfred Stolpe liebte Kuchen und wollte ihn nicht alleine essen. So überredete er mich jede Woche doch auch ein Stück oder zumindest die Hälfte zu nehmen. Ein Ritual das trotz Hinweisen auf meine Diät oder weitere vergebliche Abwehrversuche sich nicht veränderte und ein Spiel, das ich immer schon zu Beginn unserer Treffen verloren hatte.
Es war alles in seinem Kopf
Penibel gut organisiert und bewaffnet mit einem seiner Terminbücher, das andere wurde parallel geführt und lagerte zur Sicherheit auf seinem Schreibtisch, begann er mit seiner Liste von Themen, die er mit mir besprechen wollte. Sie drehten sich neben der Stiftung auch um Politik, Personen und ab und zu Privates. Für die ganz wichtigen Dinge gab es ein spezielles kleines Heft, in dem er sich aktuelle Notizen machte. Er holte meine Meinung zu allen möglichen Themen ein und stellte sie neben die anderer. Nach einiger Zeit begann ich zu verstehen, dass er wie ein guter Journalist arbeitete. Mindestens zwei Quellen waren nötig, um einen Sachverhalt oder eine Einschätzung zu verifizieren. Ein Büro oder Mitarbeiter brauchte er dazu nicht, es war alles in seinem Kopf.
Seine langjährigen politischen und menschlichen Erfahrungen aus den verschiedenen Systemen hatten ein gute Portion Misstrauen in ihm wachsen lassen. Oft bezeichnete er sich als misstrauisch wie ein alter schwarzer Kater. Und dass er damit richtig lag, erfuhr ich leider oft, wenn ich mal wieder zu euphorisch Hoffnung in Menschen oder Projekte gesetzt hatte. Neben Misstrauen war aber auch Vertrauen eines seiner Handlungsmaximen. Hierzu konnte er auf ein beeindruckendes Netzwerk bauen. Es bestand aus Personen, die aus den verschiedensten Bereichen seines Lebensabschnitte stammten und alle fühlten sich ihm in positiver Hinsicht verpflichtet. Wertschätzung und Empathie waren hierbei seine wichtigsten Führungsinstrumente, die er auch mir gegenüber einsetzte. Es reichten dann oft kleine Sätze, entweder auf Zetteln, oder später als SMS, um Mut zu machen oder Niederlagen besser verkraften zu lassen.
Verantwortungsgefühl und enorme Disziplin
Ein „Glück auf!“ vor wichtigen Ereignissen oder „Sie waren sehr tapfer“ nach einer verkorksten Sitzung halfen doch zumeist. Ob Motivation oder Manipulation dabei überwog, war mir egal. Fühlte ich mich doch nie zu etwas genötigt, das mir widerstrebte oder mich in meiner Eigenständigkeit in Frage gestellt hätte. Sein Verantwortungsgefühl und seine enorme Disziplin ließen ihn Jahre hinaus sein ärztlich prognostiziertes Ende überstehen. Das gab ihm die Zeit, Menschen und Projekte zu unterstützen, die er als wichtig ansah. Er beriet seine Nachfolger im Ministerpräsidentenamt, aber auch eine Reihe von Bundespolitikern, wie Frank Walter Steinmeier suchten regelmäßig mit ihm das Gespräch. Die Politik in Brandenburg verfolgte er ganz genau bis zuletzt.
Nachdem die AFD nach der Landtagswahl als stärkste Kraft verhindert und Weihnachten vorbei war, konnte er gehen. Zum Glück war Corona da noch nicht präsent, es hätte es ihm nicht leichter gemacht. Sehr oft habe ich dieses Jahr an seine möglichen Kommentare zum Geschehen gedacht. Womöglich hätte er die Corona Leugner als „Dummköpfe“ bezeichnet und Christian Drosten als Wissenschaftler gelobt, ich weiß es nicht genau, aber er hätte uns allen sicher wie immer Mut gemacht.