Ich ahnte, dass hier eine Bombe tickt
Die Regierung will die Lkw-Maut wieder privatisieren – obwohl sie daran schon einmal fast scheiterte. Ex-Verkehrsminister Manfred Stolpe über den Hochmut von Konzernen
Manfred Stolpe: Als ich 2002 als Bundesverkehrsminister antrat, wurde der Mautvertrag als großer Erfolg dargestellt. Mir war klar, dass die Einführung der Lkw-Maut vor der Bundestagswahl durchgedrückt wurde und Stimmen für die Regierung bringen sollte. Meine Unkenntnis und mein Misstrauen waren groß. Ich ahnte, dass hier eine Bombe tickt. Zunächst schien alles planmäßig zu laufen.
ZEIT ONLINE: Das Mautsystem sollte damals viele Wünsche erfüllen: Es sollte gefahrene Strecken messen und sie mobil abrechnen; es sollte mit höheren oder niedrigeren Preisen je nach Auslastung der Autobahnen den Verkehr steuern; es sollte einen internationalen Standard setzen und zum Exportgut werden. Waren die Ansprüche einfach zu groß?
Stolpe: Die Anforderungen an das Mautsystem waren berechtigt. Aber die Entwicklung war bei dem Vertragsabschluss noch nicht abgeschlossen und die Zeit zu kurz bemessen.
ZEIT ONLINE: Die Maut bringt immerhin 4,5 Milliarden Euro im Jahr ein. War also der Wunsch der Politik, so schnell wie möglich Einnahmen zu erzielen, das Kernproblem? Oder fehlte es auf staatlicher Seite an technischem Wissen, um die Versprechen der Konzerne überprüfen zu können?
Stolpe: Kurz gesagt: Die Vertragspartner Industrie und Bund wollten im Sommer fertig werden. Die Industrie, um ein großes Geschäft abzuschließen. Der Bund, um ein gelungenes Projekt im Bundestagswahlkampf vorzuweisen. Es gab keine ausreichenden Nachbesserungen.
ZEIT ONLINE: Was haben Sie getan, um die Probleme in den Griff zu bekommen?
Stolpe: Ich nutzte die ruhige Zeit nach der Wahl, um mich zu informieren. Ich fragte die Staatssekretäre und die Abteilungsleiter nach möglichen Problemen. „Alles bestens.“ Ich suchte die Vorstandsvorsitzenden der drei Träger auf: Siemens, Telekom und Daimler – sie hielten meine Fragen für unangemessen, ja dumm. Das haben Fachleute erarbeitet und freigegeben, hieß es. Alle drei waren fest davon überzeugt, dass alles gut laufen würde. Bei dem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden von Daimler half mir der Bundeskanzler, denn ich bekam kurzfristig keinen Termin. In dem Gespräch zu dritt fragte ich: Wenn das Projekt trotzdem nicht funktioniert? Da antwortete der Industriepartner: Dann ist es so, wie wenn ein Auto nicht läuft – Pech gehabt. Da sind dann Milliarden in den Sand gesetzt. Das kommt vor. Das bringt uns nicht um.
ZEIT ONLINE: Hat Sie diese Antwort zufriedengestellt?
Stolpe: Im Bundesverkehrsministerium arbeitete ein Referatsleiter schon jahrelang am Mautsystem. Den suchte ich auf, ohne die Zwischeninstanzen – Abteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter, Staatssekretär – zu verständigen. Der Referatsleiter war erschrocken. Noch nie war ein Minister in seinem Büro gewesen. Ich versprach ihm absolute Verschwiegenheit. Ich würde seinen Namen niemals erwähnen. Ich wollte nur das System verstehen. Da sagte er mir, die Zeit war zu kurz. Der Vertrag sollte bis zur Bundestagswahl abgeschlossen sein. Die Unternehmen nutzten den Zeitdruck, um das Risiko auf den Bund zu schieben.
In der Öffentlichkeit war noch alles ruhig. Aber ich konnte nicht sagen, ob das Mautsystem jemals funktionieren würde. Die Offiziellen der Konzerne und der Bund sagten: Das Mautsystem wird funktionieren.
ZEIT ONLINE: Haben Sie sich zusätzliche technische Expertise verschafft?
Stolpe: Ich kannte einen Unternehmer aus Baden Württemberg. Der kannte einen Entwickler des Systems. Mein Bekannter meinte, der würde mir nichts vormachen. Ich fuhr heimlich nach Stuttgart und traf mich privat mit dem Experten. Es wurde ein langer Abend. Er erklärte, dass das Mautsystem die Navigation und die Telekommunikation zusammenbringen würde. Das würde gehen. Problematisch sei nur die Masse der Daten. Ein Rechner, der alles verarbeiten würde, sei noch in der Entwicklung. Das würde zwei Jahre brauchen, vereinbart war ein Jahr.
ZEIT ONLINE: Mitte 2003 wurde klar, dass das Mautsystem nicht funktioniert. In der Öffentlichkeit wurden Sie zum Sündenbock.
Stolpe: Es kamen 2003 erst das Gerücht, dann begründete Meldungen, dass das Mautsystem nicht gelingen würde, zumindest der Zeitplan könne nicht eingehalten werden. Ich forderte die Unternehmen zum Gespräch auf. Sie beteiligten sich mit kompetenten Vertretern. Ich nahm selbst an allen Gesprächen teil. Dabei gewann ich den Eindruck, dass Zeit gewonnen werden sollte.
Die Medien beschäftigten sich mit mir, einschließlich etwa 100 Karikaturen. Ich war der Versager – auf die Betreiber guckte niemand! Auch die Bundesregierung war nicht im Schussfeld. Ich sprach mit dem Kanzler. Er hatte Sorge, dass bald die Bundesregierung in den Medien angegriffen würde, und riet mir, das Projekt zu beenden. Grund könnte die Nichteinhaltung der Termine sein. Ich bat um einen letzten Versuch.
ZEIT ONLINE: Sie haben damals damit gedroht, den Vertrag mit den Betreibern zu kündigen.
Stolpe: In einer langen Nachtsitzung mit den Vertretern der Firmen wurde von denen das Hinhalten fortgesetzt. Ich drohte, das Projekt zu beenden, wenn es nicht zu neuen Verabredungen käme. Man nahm das nicht ernst. Gegen zwei Uhr in der Früh erklärte ich das Projekt für gescheitert und brach die Gespräche ab. Das hatten die Firmen nicht erwartet. Am nächsten Morgen baten die Firmenvertreter um ein neues Gespräch. Da begannen die Nachverhandlungen um Termine und Schadenersatz.
ZEIT ONLINE: Gab es einen Moment, an dem Sie fürchteten, dass das Projekt nicht mehr gerettet werden kann?
Stolpe: Nach meinem Nachtgespräch mit den Experten in Stuttgart glaubte ich, dass das Projekt gelingen wird. Die Firmenvertreter waren an dem Großvorhaben stark interessiert und wollten nur die Ausfälle beim Bund belassen. Nachdem ich freie Hand vom Bundeskanzler bekommen hatte, konnte ich das Scheitern riskieren. Die Firmen gaben nach.
ZEIT ONLINE: Sie haben damals gesagt, der Umgang mit den Konzernen sei für Sie „eine bittere Kapitalismuserfahrung“ gewesen, und sprachen auch vom „Hochmut der Unternehmen“. Was meinten Sie damit?
Stolpe: Für mich war das eine wichtige Erfahrung. In der Wirtschaft wird mit harten Bandagen gekämpft. Bei allen Freundlichkeiten im Umgang müssen die Firmen auf den Profit achten. Es geht letztlich um die Existenz – auch des einzelnen Verhandlungsführers. Das zeigte sich in den Verhandlungen. Zweifel an dem Gelingen des Projekts wurden nicht geduldet.
Wer Fragen stellte, wurde wie ein Dummkopf behandelt. Mir machte das nichts aus. Ich kam aus dem Osten, musste nicht alles wissen und fragte in den Verhandlungen und bei den großen Chefs. Im Laufe der Gespräche wurde ich sicherer. Das Allmachtsdenken der Großunternehmen ist für mich nur Fassade: Hoch bezahlte Manager stürzen und mächtige Unternehmen gehen zugrunde.
ZEIT ONLINE: Sie sprechen offen über Ihre Krebserkrankung. Die Krankheit ist auch der Grund, weshalb wir dieses Gespräch schriftlich führen. Die Diagnose erhielten Sie mitten in der Mautkrise. Sie sagten einmal, Ihnen sei die Einführung des Mautsystems damals wichtiger gewesen als eine Operation. War Toll Collect es wert, dafür Ihre Krankheit zu vernachlässigen?
Stolpe: Das Projekt Lkw-Maut wäre vermutlich geplatzt, wenn ich ins Krankenhaus gegangen wäre. Das Vorhaben war auf mich fokussiert. Die Gegner zielten auf mich und die Befürworter duckten ab.
ZEIT ONLINE: Wenn Sie heute auf Toll Collect und das Mautsystem blicken: Welche Bilanz ziehen Sie?
Stolpe: Es war richtig, die Lkw-Maut einzuführen. Meine Hoffnung, dadurch einen Lkw-Pendelverkehr mit der Bahn Posen-Hannover einzuführen, scheiterte leider am Widerstand der Lkw-Unternehmer und der Fahrer.
Interview: Karsten Polke-Majewski