Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit in Prenzlau

Herzlichen Dank für die Einladung hier nach Prenzlau in die Uckermark. Ja, ich liebe die Uckermark. Marion Gräfin Dönhoff hat mir erklärt, woran das liegen kann. Sie fühlte sich hier an ihre ostpreußische Heimat erinnert, an die Hügel, die Seen, die Wälder, die Weite der Landschaft, den klaren Himmel und die wunderbare Luft.

Und so geht es mir hier mit der Erinnerung an meine ostpommersche Heimat. Das sitzt ganz tief, das bindet –  selbst wenn es die Burg Stolpe bei Angermünde nicht gäbe.

Doch die Uckermark ist nicht nur Landschaft, sondern altes Kulturland, ihre Dorfanlagen, Schlösser und Dorfkirchen. Aber besonders angetan hat es mir seit über 60 Jahren die Marienkirche in Prenzlau. Ich sah ihren langsamen Zerfall und erlebte, wie manche Leute von der immer schöner werdenden Ruine schwärmten.

Das tat weh und als ich dann als Chefjurist der Evangelischen Kirche Einfluss auf den Wiederaufbau von Kirchen hatte, setzte ich mich für Marien-Prenzlau ein. Das war nicht einfach. Denn ein zwingender kirchlicher Nutzen war nur mühsam zu begründen. Größeren Bedarf gab es in Sachsen, Berlin und Potsdam. Doch ich wollte – und will auch heute nicht – dass die Uckermark zweitklassig bewertet wird. Der Wiederaufbau gelang mit Unterstützung der Kirchen aus der Bundesrepublik. Obwohl eine Deutsche Einheit damals nicht im Bereich des Vorstellbaren war, konnte die Losung der Kirche: „Wir sind getrennt, aber gehören zusammen“ als ein Vorbote späterer Ereignisse gesehen werden.

Heute haben wir die Deutsche Einheit schon 21 Jahre und für mich ist es immer noch wie ein Wunder. Ich habe an der Zusammengehörigkeit der Deutschen nie gezweifelt. Aber ich habe nicht geglaubt, dass die Ost-West-Annäherung sie so schnell zulassen würde. Ich habe nicht geglaubt, dass die Sowjetunion friedlich auf die DDR verzichten würde. Denn diese war ein militärischer Vorposten mitten in Europa, ein Riegel vor Polen, der Tschechoslowakei und den baltischen Sowjetrepubliken. Die Deutsche Einheit um den Preis eines Dritten Weltkrieges wollte ich nicht.

Zum Glück habe ich mich geirrt. Es kam anders. Die Ostpolitik von Willy Brandt, Walter Scheel, fortgesetzt von Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher setzte auf Wandel durch Annäherung. Die Schlussakte von Helsinki 1975 für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa versprach Gewaltverzicht und Kooperation, aber auch Menschenrechte. Die Erwartungen der Menschen in ganz Osteuropa und auch in der DDR auf Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Rechtssicherheit und Ende der Bevormundung wuchsen immer stärker. Unsere polnischen Nachbarn brachen 1980 das Eis und Ungarn machte 1989 seine Westgrenzen auf. Auch die Mehrheit der Menschen in der DDR wollte Freiheit und Mitsprache. Ab September 1989 wurden die Proteste öffentlich. Die Menschen sammelten sich unter dem Dach der Kirchen – auch in der Uckermark – und trugen ihren Protest auf die Straße.

Die hochgerüstete Staatsmacht erwartete Steinwürfe, angezündete Parteizentralen und gelynchte Funktionäre, um dann den Aufruhr nach chinesischem Muster zusammenzuschießen. Die starke Westgruppe der Sowjetarmee war zur Unterstützung bereit. Alles wie gehabt 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1969 in der CSSR.

Aber die Proteste blieben gewaltlos, so wie es in den Kirchen gefordert war. Kerzen statt Steine entwaffneten die Diktatur. Denn sie wollte vor der Weltöffentlichkeit kein Mörderregime sein.

Viele erwarteten, dass eine andere DDR entstehen müsse. Auch die vier Siegermächte sahen das so. Dann kam am 9. November der Sturm auf die Mauer und veränderte die Lage schlagartig.

Nie wurde ich als Chef-Jurist der Evangelischen Kirche so intensiv von Vertretern der vier Mächte befragt, wie im November und Dezember 1989. Baker, Mitterand, Jakovlew und Primakow gehörten dazu. Alle wollten wissen: Gibt’s es jetzt Chaos und Bürgerkrieg in der DDR? Sind internationale Spannungen und Konfrontationen in Europa die Folge?

Unsere Antwort konnte also nur sein: Am Tag des Mauerfalls haben die DDR-Bürger ihren Freiheitswillen durchgesetzt und ihr Selbstbestimmungsrecht zurück erobert. Und nur freie Wahlen konnten neue Ordnung schaffen.

Die Siegermächte, im Februar 1990 auch die Sowjetunion stimmten freien Wahlen zu. Am 18. März 1990 entschied sich die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung für die Deutsche Einheit, die dann am 3. Oktober 1990 völkerrechtlich verbindlich wurde. Schneller ging es wegen der internationalen Beteiligung nicht, aber es war viel früher als ich es in meinen kühnsten Träumen erwartet habe!

Am Anfang war der Mut zur Hoffnung. Es dauerte nicht lange, da wurde auch der Mut zur Verantwortung nötig. Die Runden Tische, die im Revolutionsherbst entstanden, verbanden beides. Sie gaben der Friedlichen Revolution ein Organ des Dialogs und des Ausgleichs, dessen Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann.

Die staatlichen Institutionen brachen in sich zusammen. Nach der Maueröffnung verließen täglich Tausende die DDR. Die Versorgung und die medizinische Betreuung waren gefährdet. Das Finanzsystem kollabierte. Das öffentliche Leben und die gesamte innere Ordnung hingen am seidenen Faden. Auch die Angst, dass doch noch sowjetische Panzer rollten, war noch berechtigt.

In diese Lage hinein, mitten im Umbruch in die Verantwortung zu gehen, erforderte nicht weniger Courage und Bürgermut als die Demonstrationen der ersten Stunde. Chaos zu verhindern, war wichtig.

Mein Dank gilt allen, die in der nun gewonnenen Freiheit Verantwortung übernahmen, auch hier in der Uckermark: Die Landräte in Prenzlau, Angermünde und Templin, der Oberbürgermeister von Schwedt, die Bürgermeisterinnen, Bürgermeister und Abgeordnete. Sie haben Brandenburg von unten aufgebaut und die Uckermark zu Brandenburg zurückgebracht.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich weiß, dass einige, vielleicht sogar viele unter Ihnen nach der deutschen Einigung einen schweren Weg zu gehen hatten. Für manche ist dieser Weg immer noch nicht zu Ende. Die Herausforderungen waren für alle Ostdeutschen groß, für die Brandenburgerinnen und Brandenburger manchmal noch größer. Wie viele haben lange nach einer neuen Arbeit gesucht, die ihnen eine Sinnstiftung gab, die aber vor allem auch die Familie ernährte. Wie viele mussten sich gänzlich neu orientieren, kannten sich im alltäglichen Leben nicht mehr aus und fühlten sich zu guter Letzt auch noch allein gelassen.

Ich weiß, es war ein schwerer Weg, für den wir alle vor allem Mut brauchten. Realistische Hoffnung, und eine Prise Glauben, um mit den Herausforderungen fertig zu werden, waren auch nicht ganz unnützlich. Denn es war uns klar: „Wer abwartet, hat schon verloren“. Dieser einfache, aber nicht einfach umzusetzende und vor allem kluge Satz stammt nicht von mir, sondern von einer Frau, die wir alle kennen: von Regine Hildebrandt. Mit ihrem Einsatz hat sie die Menschen mitgerissen, hat ihnen Glauben und Hoffnung gegeben: Ihr müsst euch nicht ducken. Ihr müsst euch nicht verbiegen. Ihr müsst nicht so tun, als wäret ihr erst am 3. Oktober 1990 geboren. Eure Erfahrungen in Diktatur und Umbruch sind wertvoll für den Neuanfang. Das war ihre und unsere Botschaft.

Heute bin ich zutiefst überzeugt: Wir können stolz sein, auf das, was wir erreicht haben! Unser Brandenburg ist das Kind einer friedlichen Revolution. Am Anfang war der Mut. Der Mut von Hunderten, der Mut von Tausenden und schließlich der Mut von Hunderttausenden Menschen, die sich nicht mehr einschüchtern ließen.

Aber mit der Hochstimmung kam auch der Schock. Bei einem solchen Totalumbruch war er unvermeidbar. Zuerst der Aufstieg in die Freiheit, das Aufatmen, der SED-Diktatur entronnen zu sein. Dann dieser beängstigende Sturzflug des Ostens in die deutsche Einheit, in ein unbekanntes System. Die Sieger der Revolution drohten zu Verlierern der Einheit zu werden!

Der Umbruch von Wirtschaft und Arbeit beseitigte schlagartig die staatliche Kontrollwirtschaft und führte den Markt als zentrale Bestimmungskraft über Leben und Sterben der Betriebe ein – mit verheerenden Folgen für Tausende Unternehmen und Hunderttausende Arbeitsplätze. Alles bündelte sich in dem sozialen und mentalen Umbruch, der das Leben der Menschen in praktisch jeder Beziehung aus den Angeln hob und sie einem beispiellosen Veränderungsstress aussetzte.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben in den 90er Jahren die menschenmöglichen Kräfte einer Landesregierung aufgeboten und wir haben manches erreicht. Wir haben um jeden Arbeitsplatz gekämpft und niemanden einfach abgeschrieben oder verloren gegeben.

Wir haben mit allen nur möglichen Förderansätzen 47 Industriekerne gesichert und ein Geflecht industriebezogener Dienstleistungen ermöglicht. Wie zum Beispiel die Stahlstandorte in Brandenburg an der Havel, Hennigsdorf und Eisenhüttenstadt. Oder die Chemie in Schwarzheide, Guben und eben in Schwedt, hier in der Uckermark.

Wir haben Stadtkerne gerettet, Straßen modernisiert und die Infrastruktur des Landes binnen weniger Jahre ins 21. Jahrhundert geführt. Wir haben Universitäten gegründet und Forschungsstätten angesiedelt. Wir haben die Bildungs- und Weiterbildungsangebote hochgefahren, damit die Menschen mitbekommen, wo alles sich wandelt. Wir haben Investoren umworben und Existenzgründer ermutigt und stark unterstützt. Einhunderttausend Frauen und Männer haben sich in Brandenburg selbständig gemacht. Das ist prozentual mehr als in jedem anderen ostdeutschen Land und nach Baden-Württemberg Platz 2 in Deutschland.

Nicht zuletzt haben wir für Brandenburg Freunde, Förderer und Bündnispartner gesucht, im Westen, aber auch im Osten, diesseits und jenseits der Grenzen. Und man darf nicht unterschätzen, wie sehr uns die gute Freundschaft unserer polnischen Nachbarn einbettet in das größere europäische Netzwerk wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen.

Die letzten 21 Jahre haben Brandenburg gefestigt. Worauf kommt es für die nächsten Jahrzehnte an? Die immer noch nicht überwundenen Krisen des Finanzkapitalismus und die aufziehende Euro-Krise schärfen unseren Blick für zwei Gefahren: Die erste ist die Aushöhlung der Demokratie, wenn das Parlament nur noch Erfüllungsgehilfe der anonymen Befehle des Kapitalmarktes wird. Und die zweite Gefahr ist die Rückkehr der Klassenspaltung, wenn die Demokratie ihre Aufgabe des sozialen Ausgleichs nicht erfüllt.

Susanne Schmidt, Bankerin, geniale Tochter eines großen alten Mannes, warnte in diesen Tagen vor dem Irrglauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes: „Die wirkliche Macht liegt bei den Banken. Viele Banken sind zu groß. Wenn sie pleite gehen, muss der Staat sie retten, um größeren Schaden abzuwenden. Das wissen die Banken und nehmen größere Risiken in Kauf. Die Banken erpressen die Staaten mit ihrer Drohung, den nationalen Finanzplatz zu verlassen. Deshalb müssen die Staaten enger zusammenarbeiten und die Finanzwirtschaft regulieren. Die Politiker brauchen Mut zu unpopulären Entscheidungen, müssen langfristig über Wahlperioden hinausdenken und nicht jeden Tag auf die Umfragen schauen.“

Was müssen wir tun?

Ich bin überzeugt, dass Leitfaden unseres Handelns Arbeit, Bildung und Zusammenhalt sein müssen.

1. Arbeit, weil der Mensch seinen Teil beitragen will zur Wohlfahrt einer Gesellschaft, ohne die er nicht leben kann. Weil es nicht reicht, den Menschen Geld in die Hand zu drücken. Weil erzwungene Arbeitslosigkeit erniedrigt und ausgrenzt.

2. Bildung, weil der Wandel nicht aufhört. Weil wir nur dann nicht Getriebene, sondern Gestaltende dieses Wandels werden, wenn wir seine Kräfte begreifen und das Lernen lernen.

3. Schließlich Zusammenhalt, weil der Mensch als isolierte Existenz am Rande oder außerhalb der Gesellschaft der Verrohung preisgegeben ist. Zusammenhalt darf keine schöne Theorie bleiben. Zusammenhalt muss zu einem Tätigkeitswort werden. Und ob wir als Mitmenschen zusammen halten, zeigt sich in der Praxis. Nicht nur gucken, sondern kümmern – das muss unsere Regel sein.

Papst Benedikt hat in seiner Rede im Deutschen Bundestag wichtige Hinweise gegeben. Ich zitiere: „Die innere Identität Europas hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in Anerkenntnis der unantastbaren Würde … eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen … uns aufgegeben ist“

Menschwürde und Rechtstaatlichkeit fordert unsere Brandenburgische Verfassung. Das muss auch für politische Debatten gelten. Es sollte nicht um Rache oder Rechthaberei gehen, sondern Aussöhnung und Zusammenhalt sollten Vorrang haben.

Pastor Uwe Hollmer, wirkliches DDR-Opfer, hat 1990 unweit von hier im Barnim den gejagten und verfemten Erich Honecker und seine Frau aufgenommen.

Hollmer notierte:

„Ein Neuanfang, den wir uns so sehr wünschen, auch für Genossen und Funktionäre, kann nur durch Vergebung und Versöhnung, wenigstens Duldung geschehen…“

In der Uckermark schlägt das Herz Brandenburgs. Hier haben die Menschen den Roten Adler nicht vergessen, auch als Brandenburg-Preußen verpönt und dieses schöne Land zu Mecklenburg geschlagen wurde. Alle Aufgeregtheiten der Zeiten haben diese Region nicht beseitigt. Die Uckermark liegt mitten in Europa, zwischen Ost und West, Nord und Süd. Die Uckermark ist gut erreichbar und wird ihre Chancen nutzen. Auch demographische Entwicklungen oder Struktur-Reformeifer werden die Uckermark nicht beseitigen. Junge Leute ziehen in die weite Welt, nicht wenige kommen wieder und andere entdecken die Uckermark. Die Zugereisten lernen dieses Land lieben, werden von ihm geprägt und stärken es. Sogar die Berliner, wie es mein unlängst verstorbener Freund Horst Karsner vorlebte.

Seit der Deutschen Einheit ist auch hier viel geschehen. Die Uckermark ist im Aufbruch in eine gute Zukunft. Manches geht hier langsamer, aber dafür haltbarer. Die Uckermärker haben die Deutsche Einheit vollzogen. Sie machen nicht den Fehler vieler Politiker, Historiker und Journalisten, die leider viel reden und wenig zuhören, lieber etwas behaupten als etwas zu verstehen, lieber übereinander urteilen statt miteinander zu reden. (Beatrice von Weizsäcker)

Hier kann man zuhören und verstehen lernen. Hier können Unterschiede ertragen, deutsche Vielseitigkeit geschätzt und innere Einheit gelebt werden.

Glückauf Uckermark!